Sonntagsgedanken: Skeptisch sein und nahbar bleiben

Ich bin sehr froh, dass der „ungläubige“ Thomas im Evangelium dieses Sonntags bei Jesus Verständnis findet. Als er nicht glauben will, dass der Auferstandene den anderen Jüngerinnen und Jüngern erschienen ist, da erscheint Jesus einfach noch einmal und gibt Thomas die Chance, die Wundmale zu berühren und sich zu überzeugen.

Ich nenne Thomas lieber „skeptisch“ als „ungläubig“. Darin steckt das griechische Wort für „betrachten, untersuchen“ (sképtomai). Skeptisch ist eine Person, die etwas nicht einfach glauben, sondern selber sehen will. – Ja, das blinde Vertrauen, das Jesus von Thomas eigentlich erwartet, ist die hohe Kunst des Glaubens. Aber in der heutigen krisengeschüttelten Zeit hilft uns schon die Haltung des Thomas weiter.

Denn wir kämpfen mit zwei Formen von Realitätsverzerrung, die aktuell im Übermaß vorherrschen und uns das Leben schwer machen. Da ist die „Normalitätsverzerrung“, die z.B. bei Katastrophen wirksam wird. Wir tun dann einfach so, als sei alles weitgehend normal und machen weiter wie bisher. Dieser Mechanismus hilft, Überreaktionen und Panik zu vermeiden, also einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber wenn er z.B. dazu führt, dass wir die katastrophalen Folgen der Klimakrise nicht sehen wollen, ist er kontraproduktiv, weil er verhindert, dass wir angemessen reagieren.

Der andere Mechanismus ist die „Negativitätsverzerrung“. Er bewirkt, dass wir uns negative Erlebnisse oder Kritik besser merken als positive Dinge. Auch das kann nützlich sein, weil es uns hilft, Probleme zu identifizieren und uns zu verbessern. Aber wenn zu viel Frust führt dazu, dass wir uns von den anderen abkoppeln und sie nur noch negativ sehen, dann finden wir keine gemeinsamen Lösungen mehr und die Gesellschaft zerfällt.

Thomas steht vor keiner Ökokrise und kämpft nicht mit Politikfrust, sondern fragt sich, ob er etwas Unwahrscheinliches glauben soll. Dennoch kann seine Haltung uns helfen, nicht in „Verzerrungsfallen“ zu tappen:

Thomas will den Finger in die Wunde legen, sich die Sache genau anschauen, die Wirklichkeit nicht ungeprüft schönreden. Schon mal gut. Aber dabei bleibt er nicht stehen: Als er sich überzeugt hat, geht er in die Nahbeziehung zu Jesus und sagt: „Mein Herr und mein Gott!“. Er verharrt nicht in einem skeptischen Schneckenhaus. Indem er sich mit Jesus wieder verbindet, kann seine Geschichte mit ihm weitergehen, wird Entwicklung möglich. Er ist ein nahbarer Skeptiker.

Skeptisch sein und nahbar bleiben statt Augen verschließen und sich abschotten: Das würde uns aktuell bei manchem Problem weiterhelfen. Die gute Nachricht: Das kann man in jedem Alter noch lernen. Und Tag für Tag einüben.

Dr. Frank Suppanz, Kath. Erwachsenenbildung Kreis Göppingen e.V.

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