Der schreckliche Überfall der Hamas auf Israel, bei dem viele hundert Israelis brutal massakriert wurden, zieht eine harte Reaktion der israelischen Armee nach sich. Ich verstehe, dass Israel massiv zurückschlägt, auch wenn die Zerstörungen und das Blutvergießen mir das Herz zerreißen.
Aber ich verstehe nicht, wenn nun wieder eine krass fehlinterpretierte Bibelstelle bemüht wird: die israelische Armee würde vorgehen nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Die Formel im 2. Buch Mose, Kapitel 21, Vers 23 hat grade nicht mit Rache oder Vergeltung zu tun, sondern mit Entschädigung und Ausgleich. Es geht nicht darum, dass der Geschädigte es dem, der ihn geschädigt hat, auf gleiche Weise heimzahlt, sondern genau anders herum: der, der Schaden angerichtet hat, muss dem, den er geschädigt hat, etwas zurückgeben. Das sind in aller Regel Geldzahlungen. Man muss nur weiterlesen „… so sollst du geben Leben um Leben, Zahn um Zahn …“ – geben, nicht nehmen. Außerdem: das hebräische Wort táchat, das Martin Luther mit „um“ wiedergegeben hat, heißt „für“ oder „anstelle dessen“: bei Schaden „musst Du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn…“ Da ist die Einheitsübersetzung besser.
Der Evangelist Matthäus zitiert in der Bergpredigt Jesu in Kapitel 5, Vers 38-39 die Formel auch, stellt sie in den Zusammenhang von Gewaltverzicht und fördert damit das Missverständnis, als würde „Auge um Auge“ Gewalt befördern. Doch das stimmt nicht! Immer wieder wurde die Formel bemüht, um das Alte Testament als Ganzes zu verunglimpfen. Ein Mosaikstein in unserer antijüdischen Geschichte.
Wir tun gut daran, in diesen explosiven Zeiten bei allem, was über Israel gedacht, geredet oder geschrieben wird, die „Auge um Auge“-Formel einfach wegzulassen. Stattdessen kommt mir aus der Nachdichtung von Psalm 58 durch Cornelius Becker in den Sinn: „Wir brauchen aller Seel und Kraft, dass nach viel böser Leidenschaft ein neu Geschlecht erwache.“
Pfr. i.R. Prof. Bernhard Leube
