In Griechenland in der Antike konnten die Pilger in Delphi am Tempel die Inschrift lesen „Erkenne dich selbst“. Nach der griechischen Überlieferung sagte das Gott Apollon persönlich. Der Ausspruch hat in den verschiedensten Zusammenhängen die Zeiten bis in unsere Tage überdauert.
Und auf den ersten Blick scheint dieser Ausspruch ansprechender zu klingen als das biblische Wort, das am vergangenen Mittwoch zu Beginn der Fastenzeit beim Austeilen der Asche zugesagt wurde: „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“. Auf den zweiten Blick hat dieses „Erkenne dich selbst!“ aber genauso die Bedeutung, den Menschen daran zu erinnern, dass er sterblich ist.
Durch diese Erkenntnis kann das Leben entdeckt werden. Diese 40 Tage der sogenannten österlichen Bußzeit laden dazu ein: Sich selbst zu erkennen und sich bewusst zu machen, dass wir oft uns selbst nicht kennen. Um aber unseren Mitmenschen gut begegnen zu können und sie als diejenige wahrzunehmen, die sie sind, ist es unumgänglich, sich selbst zu erkennen. Es ist befreiend, nicht vortäuschen zu müssen, dass man stark und fehlerfrei sei. Wahre Stärke besteht darin, der eigenen Schwächen bewusst zu sein und in die eigene Haltung zu integrieren – also letztlich demütig zu sein. Wo das gelingt, wird ein Mensch erfahren, dass er trotz aller Begrenztheit Einzigartiges in sich trägt: Den Wunsch zu leben, zu lieben, zu hoffen, glücklich und gut zu sein. Und diese Selbsterkenntnis lässt uns dann anders miteinander umgehen. Und darum könnte es in diesen 40 Tagen vielleicht gehen: Um den Menschen, also um mich und den anderen, und um den Umgang mit ihm. Jesus hat genau das im Blick, besonders wenn er davon spricht, dass Fasten, Beten und Almosengeben immer in Beziehung zu Gott zu denken sind. Denn in dieser Beziehung zu Gott ist Wandel möglich. Die Nähe Gottes lässt den Menschen zu sich selbst kommen und sich erkennen: Ich darf ich selbst sein, brauche nicht ständig nach Anerkennung suchen, brauche keinen Zwang auf andere ausüben, sondern kann ihnen mit Achtung und Wertschätzung begegnen. Gerade weil wir Menschen erfahren können, dass wir von Gott geachtet sind, können wir auf andere achten. Das Aufeinander–Achten – auch mit der Fragestellung was gibt uns Kraft und Halt – wird damit zum wesentlichen Tun. In der Gewissheit: Ich bin von Gott geliebt. Gesegnete Fastenzeit!
Norbert Köngeter
Stadtdiakon Katholische Kirche, Göppingen