Hilfsorganisationen fordern schnelle Entlastung

Die Rettungsdienste sind am Anschlag – auch in der Region Neckar-Alb. Die Malteser luden daher am Mittwochnachmittag gemeinsam mit Vertretern des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und der Johanniter Unfallhilfe (JUH) zu einem politischen Gespräch über die aktuelle Situation. Neben dem Bundestagsabgeordneten Michael Hennrich und der Landtagsabgeordneten Dr. Natalie Pfau-Weller (beide CDU), nahmen daran auch Nürtingens Oberbürgermeister Dr. Johannes Fridrich und Peter Freitag, Dezernent am Landratsamt Esslingen, teil.  

Ein großes Problem stellen die sogenannten Fehlfahrten dar. In diesen Fällen schickt die Integrierte Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst einen Rettungswagen los, obwohl der Patient eigentlich keine lebensbedrohliche Erkrankung oder Verletzung aufweist. „Bis zu 30 Prozent der Einsätze erfolgen inzwischen, ohne dass es zu einem Transport ins Krankenhaus kommt“, schilderte etwa Michael Wucherer, Rettungsdienstleiter beim DRK Esslingen-Nürtingen. Ebenso eindrücklich sind Zahlen, die Marc Lippe, Bezirksgeschäftsführer der Malteser Neckar-Alb, am Beispiel des Klinikums Esslingen präsentierte. Im Jahr 2019 wurden demnach rund 3800 Patienten von den Maltesern in die Esslinger Klinik transportiert, wovon 500 nach einer kurzen Behandlung noch am selben Tag entlassen wurden. Im Jahr 2022 wurden ebenfalls annähernd 3800 Patienten in die Klinik gebracht – wovon mehr als 1500 nach ärztlicher Behandlung noch am selben Tag entlassen wurden. „Diese Patienten sind eigentlich keine Fälle für das Krankenhaus. Und auch nicht für den Rettungsdienst“, macht Lippe deutlich.

Doch eben diese Menschen, bei denen eigentlich kein akuter medizinischer Notfall vorliegt, belasten das System des Rettungsdienstes, der seine Rettungswagen (RTW) und Notarzt-Einsatzfahrzeuge (NEF) eigentlich vorhält, um Menschen bei lebensbedrohlichen Situationen schnellstmöglich helfen zu können. Doch allzu oft sind diese lebensrettenden Fahrzeuge mit hochmoderner Technik und hochqualifizierten Notfallsanitätern, Rettungssanitätern und Notärzten zu Patienten unterwegs, denen eigentlich klassische Hausmittel oder der Gang zum Hausarzt genauso gut helfen könnten. Bagatellfälle, in denen sich zu viele Menschen allerdings nicht mehr zu helfen wissen, wenn etwa das Kind fiebert oder der hartnäckige Husten einem den Schlaf raubt. „Es gibt in der Gesellschaft ein zunehmendes Versorgungsproblem. Und wenn die Menschen nicht mehr klarkommen, rufen sie den Rettungsdienst“, sagt Lippe. „Wir beobachten diese Entwicklung tagtäglich.“ Zwar mag jeder dieser „Notrufe“ individuell verständlich erscheinen, doch die Konsequenzen für den Rettungsdienst sind immens. „Unsere Leute fahren inzwischen ohne Pause von Einsatz zu Einsatz durch. Sie sind an der Belastungsgrenze – und viele kehren uns den Rücken“, sagt DRK-Rettungsdienstleiter Wucherer. Und Lippe ergänzt: „Alle Hilfsorganisationen bilden bis zum Anschlag aus, aber alle Personallücken können wir damit nicht füllen.“ Auch, weil viele Auszubildenden von fehlenden Ruhepausen und unnötigen Einsätzen zunehmend frustriert sind. „Von zwölf Auszubildenden zum Notfallsanitäter, die in diesem Jahr fertig werden, stehen uns anschließend nur sieben zur Verfügung“, macht der Malteser-Bezirksgeschäftsführer deutlich.

Besonders problematisch ist dabei: Ein Teil des Problems ist im Gesundheitssystem hausgemacht. So gibt es für kleinere medizinische Probleme außerhalb der Sprechzeiten der Arztpraxen eigentlich Notfallambulanzen und den Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD), der Hausbesuche auch an Wochenenden und Nachts durchführt. Dieser wird über die Rufnummer 116 117 koordiniert. Lange Zeit gingen diese Anrufe auf den Rettungsleitstellen ein – die diese Aufgabe im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) übernahmen und auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst disponierten. „Unser Personal ist qualifiziert, über die Abfrage der Anrufer herauszufinden, ob der Rettungsdienst benötigt wird, oder ob der Patient auf den ärztlichen Bereitschaftsdienst warten kann“, betont Wucherer. Zu Wartezeiten in der telefonischen Warteschleife kam es dabei selten, auch wenn die Notrufe über die 112 priorisiert behandelt wurden. Zum 1. Juni diesen Jahres allerdings beschloss die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), die Disponierung des ärztlichen Bereitschaftsdienst in zwei Regionalzentren im Land mit der Servicehotline für Arzttermine zusammenzuführen. Das System war der Zahl der Anrufe allerdings nicht gewachsen. „Die durchschnittliche Wartezeit liegt bei 29 Minuten“, bestätigte auch der Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich.

Das Problem: Vielen Menschen fehlt die Geduld, entnervt wird dann unter 112 der Notruf gewählt. Und die Disponenten in den Rettungsleitstellen müssen den Anrufern erklären, dass sie sich wieder an die 116 117 wenden müssen – was mitunter zu langwierigen Diskussionen führt. Oft genug wird dabei die Lage zu Hause dramatisiert, bis die Leitstelle im Zweifelsfall doch einen Rettungswagen losschickt.

Die Fachleute von Maltesern, DRK und JUH fordern daher, die Rufnummer 116 117 für den ärztlichen Bereitschaftsdienst schnellstmöglich wieder an die Integrierten Leitstellen für Feuerwehr und Rettungsdienst zurückzuführen. „Wir sind technisch und personell jederzeit in der Lage, die Disponierung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes wieder zu übernehmen“, erklärt dazu DRK-Rettungsdienstleiter Wucherer. Hierzu müssten dringend Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung erfolgen. Malteser-Bezirksgeschäftsführer Lippe denkt dabei noch einen Schritt weiter: Auch auf den Leitstellen sollten Ärzte verfügbar sein, um einen Teil der Anrufer unkompliziert beraten zu können. Den Notfalldisponenten würden damit mitunter langwierige Diskussionen erspart. „Ein Arzt bringt eine andere Autorität mit sich und verfügt auch über den rechtlichen Hintergrund, um Beratungen durchführen zu können“, erklärt Lippe. Perspektivisch könnten die Ärzte auf der Leitstelle auch die Rettungskräfte an der Einsatzstelle per Telemedizin unterstützen. Pilotprojekte hierzu laufen in anderen Bundesländern bereits. „Hilfesuchende müssen eine zentrale Anlaufstelle haben, die ihnen je nach Art der Notlage die adäquate Hilfe zukommen lässt“, wirbt Lippe. „Die Rettungsleitstellen wären hierzu hervorragend geeignet. Sie sind die Schnittstelle, an der die Systeme Rettungsdienst, kassenärztlicher Bereitschaftsdienst und die Krankenhäuser kommunikativ zusammenkommen sollten.“

Wichtig sei auch die Sensibilisierung der Gesellschaft, damit die Bevölkerung echte Notfälle von gesundheitlichen Problemen unterscheiden könne und die Selbsthilfe verstärkt würde. Die Hilfsorganisationen denken hierbei etwa an die Etablierung von Gesundheitsbildung im Schulwesen, raten aber auch Erwachsenen zur regelmäßigen Teilnahme an Erste-Hilfe-Kursen. „Schon Grundschüler könnten lernen, sich mit einfachen Mitteln zu helfen oder eine Situation besser einschätzen zu können“, ist sich Marc Lippe sicher. Durch den Wegfall von Mehrgenerationenhaushalten sei viel alltägliches Wissen zur Selbsthilfe verloren gegangen, auch die Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes haben bei einem Teil der Gesellschaft die eigene Problemlösungskompetenz geschwächt.

Hinzu käme ein gewachsenes Anspruchsdenken, sagt Oliver Cosalter, Regionalvorstand der Johanniter-Unfallhilfe in Esslingen: „Die politischen Diskussionen über die Hilfsfristen hat ein Anspruchsdenken entstehen lassen, dass man bei jedem Problem umgehend Hilfe bekommt.“ Auch von der Politik initiierte Informationskampagnen könnten helfen, hoffen die Vertreter des Rettungsdienstes. „Das Rettungsdienstsystem ist effizient und arbeitet auf hohem Niveau. Aber es muss schnellstmöglich entlastet werden. Sonst kollabiert das System“, betont Malteser-Bezirksgeschäftsführer Lippe.

Die Malteser Neckar-Alb:

Bezirk Neckar-Alb: LK Esslingen, LK Reutlingen, LK Tübingen, Zollernalbkreis • 9 Standorte: 3 Notarzteinsatzfahrzeug (NEF), 12 Rettungswagen (RTW), 11 Krankentransportwagen (KTW) • Jährlich über 20.000 Notfalleinsätze und ca. 18.000 Krankentransporte • Über 350 Mitarbeiter, 30 Auszubildende.

Die Malteser in Deutschland:

Christlich und engagiert: Die Malteser setzen sich für Bedürftige ein • 80.000 Engagierte in Ehren- und Hauptamt • an 700 Orten • 1 Mio. Förderer und Mitglieder.

 

PM Malteser Hilfsdienst gemeinnützige GmbH, Bezirk Neckar-Alb, Bezirksgeschäftsstelle

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