Stellungnahme Prof. Dr. André Reichel zum Haushaltsentwurf 2023
sehr geehrter Herr Regionaldirektor,
sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung,
Mit Erfolg: die Abhängigkeit von Russland ist dramatisch zurückgegangen, beim Ausbau der Erneuerbaren wird endlich Tempo gemacht. Gleichzeitig werden die Menschen in Deutschland deutlich finanziell entlastet, was angesichts der höchsten Inflationsrate seit der Wiedervereinigung unerlässlich ist, schwarze Null im Haushalt hin oder her.
Wir dürfen aber nicht nur auf die nächsten Wochen und Monate schauen, sondern müssen auch längerfristige Entwicklungen berücksichtigen. Im Land selbst ist gerade hierzu eine Enquetekommission „Krisenfeste Gesellschaft“ eingerichtet worden, die Handlungsempfehlungen für ein resilienteres und krisenfestes baden–württembergisches Gemeinwesen erarbeiten soll. Denn machen wir uns nichts vor: auch wenn sich der Inflationsdruck in den nächsten ein bis zwei Jahren wieder abbaut und vielleicht auch der Krieg in der Ukraine endet, die Zeit der Umbrüche, die Zeit einer „Großen Transformation“ hat gerade erst begonnen.
Der größte Langfristtreiber dieser Transformation ist die menschengemachte Klimakatastrophe, deren Vorboten wir auch in diesem Jahr mit Rekordtemperaturen, Niedrigstständen der Flüsse und einer langanhaltenden Dürreperiode für die Landwirtschaft erleben konnten. Und das alles bei global ungefähr +1,2 Grad gegenüber dem langjährigen Temperaturmittelwert. Um das 1,5–Grad–Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssen wir in den nächsten 10 Jahren mehr als 80 Prozent unserer heutigen Treibhausgasemissionen reduzieren. Das ist Transformation ohne Vorbild in der fast 200–jährigen Industriegeschichte Deutschlands.
Auch wenn wir auf der regionalen Ebene nicht immer die Instrumente zur Hand haben, um hier schnell und wirksam entgegensteuern zu können, so sind wir doch nicht ohnmächtig – und ein Verweis auf Land und Bund, ohne die wir ja nichts tun können, darf nicht weiter als Ausrede herhalten. Noch einmal: jede politische Ebene muss das Ihre jetzt entschlossen tun, um nicht nur aus der aktuellen Krise zu kommen, sondern auch um die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaneutralität voranzubringen.
Mit dem Haushaltsentwurf 2023, den wir ab heute und in den kommenden Wochen in den Gremien des Verbands beraten, müssen wichtige Weichenstellungen für eine krisenfeste Region vorgenommen werden: Klimaanpassungsmaßnahmen, ökologische Modernisierung, Wasserstoff, Freiflächenphotovoltaik, Windkraft, Verkehrswende, die IBA 27, Fachkräfteinitiative, die Bioregio, die Künstliche Intelligenz. Aber auch: Dialogformate für eine Agenda 2035 in der Region Stuttgart, also genau das, was dringend erforderlich ist, um den Zusammenhalt in der Region, das gemeinsame, geteilte und gelebte Selbstverständnis von 2,8 Mio. Menschen zu stärken und gesellschaftsauflösenden Tendenzen entgegenzuwirken. Der Verband Region Stuttgart wird so verantwortungsvoller Teil des gemeinschaftlichen Weges bei der Gestaltung von Zukunft, wie wir sie dringend und zügig angehen müssen. All dies findet volle Zustimmung seitens der Grünen–Regionalfraktion und mit unseren Anträgen möchten wir einen guten Haushaltsentwurf noch besser machen, mit einem klaren Ziel: die Region insgesamt resilient und krisenfest für die Zukunft aufzustellen.In der vielleicht drängendsten Frage für die Menschen in der Region, nämlich den Folgen der Inflation für den Wohnungsmarkt, der hier ja ohnehin schon angespannt war, wollen wir Grü-
nen regionalbedeutsame Wohnfläche sicherstellen. Das regionalplanerische Werkzeug dazu ist der regionale Wohnbauschwerpunkt. Der Entwicklung regionaler Wohnbauschwerpunkte durch die Kommunen stehen allerdings die unterschiedlichsten Hindernisse entgegen. Eigentumsverhältnisse, kommunale Beschlüsse und andere Gründe können gegen die vom Verband Region Stuttgart ausgewiesenen Flächen sprechen. Damit das Werkzeug der Wohnbauschwerpunkte weiterhin aktiv verwendet wird, ist es hier notwendig, den Überblick nicht zu verlieren und gegebenenfalls planerisch gegenzusteuern. Wohnungsnot, steigende Mieten und explodierende Baupreise wirken in der gesamten Region. Hier wären Dichtevorgaben vonseiten des Landes hilfreich, denn Planung und Umsetzung von flächen-
fressenden Einfamilienhaussiedlungen sind keine Option mehr.
Um wirksam gegen die Klimakrise auf der regionalen Ebene vorgehen zu können, soll nach dem Willen meiner Fraktion und der Fraktion Linke/Pirat, eine Kompetenzstelle klimaresiliente Stadt– und Ortsentwicklung vorbereitet werden. Vorbild kann hier das Projekt „Klimaanpassung im Landkreis Böblingen“ sein, das KlimaBB. Dieses liefert ein eindringliches Plädoyer, die notwendige Klimaanpassung entschlossen in Angriff zu nehmen. Vielversprechende Ansätze gibt es bereits in der Region, so in Winnenden, Esslingen oder Ostfildern. Diese Erkenntnisse sollen auf neue Wohn– und Gewerbegebiete angewandt werden. Eine Kompetenzstelle, wie von uns beantragt, gibt den Themen Klimaanpassung und Klimaresilienz die notwendige Dynamik und den Planer*innen die notwendigen Ressourcen, um Kommunen in der Region zu unterstützen, den Weg zu einer klimawandelfesten Siedlungsstruktur zu beschreiten. Wir werben hier um breite Unterstützung aus allen Fraktionen.
Auch bei der Energiekrise muss die Region nicht auf Vorgaben aus Berlin oder Brüssel warten. Wir haben eigene Möglichkeiten, die kreativ zur Verbesserung der Situation in von uns zu verantwortenden Bereichen beitragen können. Dazu wollen wir Grünen ein Investitionsprogramm Erneuerbare Energien auf den Weg bringen. Ziel aus unserer Sicht muss es sein, den Strombedarf unserer S–Bahn aus Erneuerbaren zu sichern. So ein Programm kann der Verband gemeinsam mit den Stadtwerken der Region entwickeln und angesichts der Strompreisentwicklung ist das aus unserer Sicht eine gute Investition in die Zukunftsfähigkeit und
Wirtschaftlichkeit der S–Bahn.
Wenn ich schon beim Verkehr gelandet bin, dann muss ich ein paar Worte zur Zukunft des ÖPNV verlieren. Nach dem großen Erfolg des 9–Euro–Tickets in den Sommermonaten ist jetzt klar, dass wir ab nächstem Jahr ein bundesweit einheitliches 49–Euro–Ticket für den Nah– und Regionalverkehr bekommen werden: das Klimaticket, wie es schon genannt wird.
Wir Grünen begrüßen das ausdrücklich. Damit wird umweltfreundliche Mobilität einfach, günstig und unkompliziert für alle Bevölkerungsgruppen deutschlandweit sichergestellt. Das hat aber Folgen für den VVS. Sicherlich werden wir den VVS weiter brauchen, um die Tarife zu bestimmen, die nicht durch das neue Klimaticket abgedeckt werden. Dabei kann es aber aus unserer Sicht nicht bleiben.
In diesem Jahr kann unser Verkehrs– und Tarifverbund auf 45 erfolgreiche Jahre zurückblicken. Wenn wir nach vorne blicken, dann ist es an der Zeit, sich über eine Neuaufstellung Gedanken zu machen. Jenseits von Tarifen sehen wir Grünen v.a. die Organisation einer nachhaltigen Mobilität in der Region Stuttgart als neue Aufgabe des VVS. Er ist hier schon aktiv, mit seinen Online–Angeboten und der VVS–App, die den Nutzer*innen zeigen, wie sie am umweltfreundlichsten von A nach B kommen. Aber das muss aus unserer Sicht mehr werden. Neue Mobilitätsdienstleistungen wie Carsharing, das RegioRad sowie On–Demand–Systeme brauchen eine Integration – auch über das Tarifsystem. Wenn die Bedingungen des 49–Euro–Tickets endgültig geklärt sind, müssen wir diese Diskussion führen. Ich halte es daher nicht nur für einen charmanten Gedanken, sondern im Sinne der Verkehrswende geradezu für geboten, den VVS zu einer umfassenden nachhaltigen Mobilitätsagentur für die Region Stuttgart weiterzuentwickeln.
Worüber wir uns ebenso dringend Gedanken machen müssen, ist die Weiterentwicklung unserer Schieneninfrastruktur für die Zeit nach Inkrafttreten des neuen S–Bahn–Vertrags im Jahr 2032. Schiene braucht langen Vorlauf, deswegen wollen wir auf einer Klausur des Verkehrsausschusses über potenzielle Ausbaumaßnahmen diskutieren, die über das hinausgehen, was wir heute schon beschlossen bzw. in der Pipeline haben. Was wir nämlich nicht wollen, ist ein neuer S–Bahn–Vertrag, der gar nicht „atmen“ kann und bei dem wir nur über Zusatzverträge (wenn überhaupt) mehr Verkehr hinzubestellen können. Gerade bedeutende Bestandsinfrastrukturen wie Panoramabahn und Schusterbahn gehören da nochmal genauer
untersucht, aber auch notwendige Infrastrukturerweiterungen wie die T–Spange und das Nordkreuz.
Was die S–Bahn angeht, müssen wir uns auch dringend Gedanken machen. Das Jahr 2032 ist aus ÖPNV–Perspektive ja schon übermorgen, 10 Jahre gehen bei allen Bemühungen um mehr und bessere Schiene schnell ins Land. Bei der letzten S–Bahn–Ausschreibung 2007/2008 waren wir doch recht ernüchtert über die Ergebnisse, mehr Wettbewerb gab es dadurch nicht. 15 Jahre später bin ich der Meinung, wir sollten die S–Bahn auch ohne Wettbewerbsverfahren vergeben können – in dem wir als Verband uns ernsthaft überlegen, eine eigene regionale Verkehrsgesellschaft zu gründen. Eine Region Stuttgart Verkehrsgesellschaft, eine RSV, wäre ein gewagter und gewaltiger Schritt. Aber genau wie der VVS wird auch unsere S–Bahn jetzt 45 Jahre alt. Eine gute Gelegenheit, um innezuhalten und den Schienenverkehr in der Region grundsätzlich neu zu denken. Wir haben genügend Zeit für ausgiebige Diskussionen, aber nach der nächsten Regionalwahl 2024 steht hier eine Grundsatzentscheidung an. Diese Diskussionen wollen wir Grünen führen.
Zum Abschluss ist mir noch ein Thema wichtig, das bei Energie und wirtschaftlicher Transformation häufig genannt wird: die regionalen Grünzüge und die Freiflächen der Region. Natürlich gibt es ein Spannungsfeld zwischen Aufbau von Resilienz, Wandel der Wirtschaftsstrukturen und dem Ausbau der Erneuerbaren auf der einen Seite – und dem Schutz von Freiflächen und regionalen Grünzügen auf der anderen Seite. Gerade die Freiflächen spielen aber eine nicht zu ersetzende Rolle bei der Klimaresilienz und beim Schutz der Biodiversität vor Ort. Wir dürfen das eine nicht gegen das andere ausspielen, sonst verlieren wir Beides.
Zur Erinnerung: Das Kapitel „Freiraumstruktur“ ist im Regionalplan genauso eigenständig wie das Kapitel „Siedlungsstruktur“ oder „Infrastruktur“. In manch anderen Regionen scheint der Freiflächenschutz zwar nicht so ernstgenommen zu werden, wie bei uns. Das sollte uns aber eher als Ansporn dienen aufzuzeigen, wie wirtschaftliche Transformation, Energieerzeugung und Freiflächenschutz zusammen gelingen kann.
Beispiel Windkraft: dort kann das Flächenziel im Rahmen des bestehenden Regionalplans erreicht werden, ganz ohne in die Grünzüge und Freiflächen zu gehen. Beispiel Photovoltaik: da gibt es überhaupt keine Flächenvorgabe und diese können ganz siedlungsnah bzw. abnehmernah ausgebaut werden. Sollte dabei ein Grünzug berührt werden, ganz oder in Teilen, kann das Regierungspräsidium wie bisher im Rahmen eines Abweichungsverfahrens schnell und unkompliziert genehmigen. Eine generelle Öffnung der Grünzüge, und damit eine de–facto Abschaffung unseres Freiraumkapitels im Regionalplan, braucht es nicht.
Wir Grünen sind deswegen auch auf die Ergebnisse der Bearbeitung unseres letztjährigen Haushaltsantrags zum Modellprojekt Flächenneutralität gespannt, die ja noch ausstehen.
Zusammengefasst: der vorliegende Haushaltsentwurf, der erste in der Amtszeit des neuen Regionaldirektors, findet von uns Grünen breite Zustimmung. Er setzt die richtigen Akzente um eine Antwort auf Klimakrise, Preiskrise, Energiekrise zu finden und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes mitzutragen. Mit unseren Anträgen wollen wir den Haushalt schärfen und weiter verbessern und freuen uns auf die anstehenden Beratungen in den kommenden Wochen!
Vielen Dank
PM BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion im Verband Region Stuttgart