Neue Stellungnahme der Verbraucherkommission BW zu Pay-as-you-live-Tarifen im Gesundheitswesen – Handlungsempfehlungen zu Pay-as-you-live-Tarifen im Gesundheitswesen -Hintergrundpapier:

Die folgenden Empfehlungen basieren auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Big Data und Boni. Technologische Voraussetzungen und gesellschaftliche Folgen von PayasyouliveTarifen (PAYL) im Gesundheitswesen“ (MWK, Innovative Projekte, 20192021), dem Abschlussbericht der Projektgruppe der Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftlicher Verbraucherschutz (2019) mit dem Titel „Telematiktarife im Versicherungsbereich“ sowie der Empfehlung der 89. Justizministerkonferenz vom 15. November 2018 „auf Grundlage von Art. 9 Abs. 4 DSGVO die Versicherten wenigstens vor einer laufenden Erfassung hochsensibler Gesundheitsdaten zum Zwecke der Prämiengestaltung zu schützen“ und ein gesetzliches Verbot durchzusetzen. „Darüber hinaus sieht die Projektgruppe die Notwendigkeit von datenethischen Leitlinien und Selbstbeschränkungen der Versicherungsunternehmen“ (VSMK 2019: 9).

Es scheint sinnvoll, diese Vorschläge nicht nur auf PAYLTarife, sondern auch auf PAYLBonusprogramme anzuwenden. Politisch ist die Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit (29. November 2020), die in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie dem Bundesministerium der Finanzen entstanden ist, wegweisend. Sie fordert, dass die „Erhebung hoch-
sensibler Gesundheitsdaten zu Zwecken der Tarifgestaltung in der privaten Krankenversicherung (PKV) unabhängig von einer möglichen Einwilligung der Versicherten für unzulässig erklärt wird.

Risiken für das Solidarprinzip sieht die Verbraucherschutzministerkonferenz sogar für die PKVen (VSMK 2019: 61). Sie empfiehlt, „Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten möglichst von der Prämiengestaltung und etwaigen Beitragsrückerstattungen zu entkoppeln. Sofern die in TelematikProgrammen enthaltenen Präventionsmaßnahmen tatsächlich eine Minderung der Ausgaben für Versicherungsleistungen bewirken, würden von den Überschüssen alle Versicherten und auch das Versicherungsunternehmen selbst profitieren“ (ebd.: 62). Diese Empfehlung sollte auf die gesetzlichen Krankenkassen ausgeweitet werden.

Entscheidungen zu PAYL sollten bewusst getroffen und transparent vermittelt werden, um irreversible Pfadabhängigkeiten zu vermeiden. Sie sollten zudem strikt evidenzbasiert sein. So ist z. B. die Behauptung, PAYL sei ein Präventionsinstrument, das zu Einsparungen im Gesundheitswesen führt, nicht bewiesen und ggf. auch nicht beweisbar. Die medizinische und wirtschaftliche Evidenz von PAYL sollte von einem unabhängigen Gremium untersucht und mit anderen Präventionsmaßnahmen abgeglichen werden. Einige interviewte Expert*innen im o.g. Forschungsprojekt favorisieren zudem umfassendere staatliche Präventionsangebote, wie sie in anderen Ländern üblich sind, gegenüber kleinteiligen und versicherungsgetriebenen Angeboten. Besonders hier scheint ein Vergleich sinnvoll.

Die Krankenversicherungen sollten ihr Profil schärfen, um den Rollenkonflikt zwischen
Kostenerstatter und Lebensbegleiter zu umgehen.


1. Rechtliche Vorgaben

Eine Betrachtung von PAYLTarifen und Bonusprogrammen aus dezidiert juristischer Perspektive steht noch aus und sollte daher dringend erfolgen.
PAYLTarifen in der PKV sind versicherungsrechtliche Grenzen gesetzt. Die Tatsache, dass sich ein sich verschlechternder Gesundheitszustand nach Versicherungseintritt
nicht auf die Beitragsgestaltung auswirken darf, bedeutet im Umkehrschluss, dass auch eine Verbesserung keinen Einfluss auf diese haben darf (vgl. §203 VVG; §155 VAG; §160 VA; §§ 6, 10 KVAV).
„Mit dem Grundsatz der Übernahme ungewisser Risikoverläufe sind allenfalls Bonussysteme vereinbar“ (VSMK 2019: 58).
Siehe hierzu auch:

„Gesundheitsbezogene Daten stehen […] nach Art. 9 DSGVO unter besonderem Schutz. Für ihre Verarbeitung ist grundsätzlich die Einwilligung des Betroffenen notwendig. Aufgrund der existentiellen Bedeutung der Krankenversicherung sind erhöhte Anforderungen an die Freiwilligkeit ihrer Erteilung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 DSGVO zu stellen. Bereits bei einer spürbaren Schlechterstellung von Versicherten, die sich nicht zur Teilnahme an einem mit Vergünstigungen verbundenen Telematikprogramm bereit erklären, könnten nach Auffassung der Projektgruppe Zweifel an der Wirksamkeit der Einwilligung bestehen. Man wird aus Art. 7 Abs. 4 und Art. 9 DSGVO in jedem Fall ableiten können, dass der Versicherte die Wahl zwischen einem Tarif mit und ohne Erfassung verhaltensbezogener Daten haben muss. Auch lässt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgern, dass der Zugang zu Leistungen, die zur Sicherung der persönlichen Lebensverhältnisse notwendig sind (z. B. Kranken und Berufsunfähigkeitsversicherung), nicht einseitig und ohne Abwägung der berührten Interessen von einer weitgehenden Preisgabe persönlicher Informationen abhängig gemacht werden darf. Den Versicherten muss aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Alternative ohne weitgehende
Datenpreisgabe offenstehen, die nicht mit unzumutbaren Mehrkosten verbunden ist(ebd.: 34, Hervorhebung, ses).

Da das bestehende Datenschutzrecht grundsätzlich über die Möglichkeit der Einwilligung auch der Erhebung intimster Daten keine Grenzen setzt, wird der Projektgruppe der Verbraucherschutzministerkonferenz (VSMK, Empfehlung der 89. Justizministerkonferenz vom 15.11.2018) zugestimmt,
„auf Grundlage von Art. 9 Abs. 4 DSGVO die Versicherten wenigstens vor einer laufenden Erfassung hochsensibler Gesundheitsdaten zum Zwecke der Prämiengestaltung zu schützen“ und ein gesetzliches Verbot durchzusetzen. „Darüber hinaus sieht die Projektgruppe die Notwendigkeit
von datenethischen Leitlinien und Selbstbeschränkungen der Versicherungsunternehmen“ (ebd.: 9).
Vertragliche Intransparenzen bezüglich der Kriterien der Bewertung der Versicherten als auch hinsichtlich der Rentabilität des Angebots müssen ausgeräumt werden (vgl. ebd.: 1, 9). Es scheint sinnvoll, diese Vorschläge nicht nur auf PAYLTarife, sondern auch bereits auf PAYLBonusprogramme anzuwenden.

2. Mangelnde Datensicherheit und Datensouveränität

Ein zentrales Thema in der Auseinandersetzung mit PAYL ist der Datenschutz. Im Forschungsprojekt „Big Data und Boni“ wurden diesbezügliche Bedenken empirisch erhoben. Wenngleich einige der interviewten Expert*innen die bestehenden Datenschutzregeln als eher innovationshemmend bezeichneten, besteht doch nahezu Konsens darüber, dass Datenschutz ein unverzichtbarer Wert sei. Über die eigenen Daten zu verfügen und sie freiwillig im Kontext von PAYL abzugeben, sei nach Dafürhalten der meisten interviewten Personen aber Sache des Einzelnen.

Datensouveränität, verstanden als Selbstbestimmung über persönliche Daten, wird von allen interviewten Stakeholdern ebenfalls als unbestritten wertvoll erachtet: „Datenschutz und Datensicherheit genießen den höchsten Stellenwert“ (AOK Plus 2020). Allerdings wird die Bedeutung des Wertes von Souveränität mit dem Hinweis auf die Verantwortung und alleinigen Entscheidung der Versicherten betont. Die Rolle der Versicherung hingegen sei nur die des Anbieters, ohne Daten zu verlangen oder zu speichern:

„Der Patient in der digitalen Welt ist aufgeklärt und selbstbestimmt. Grundvoraussetzung ist dabei die Stärkung der Datensouveränität des Versicherten. Er hat als einziger den direkten Zugriff auf seine Daten. Er entscheidet, wem er, wie lange und wofür die Nutzung seiner Daten erlaubt.

Der Versicherte ist und bleibt Herr seiner Daten“ (AOK Plus 2020).
Die Bedeutung von Datensouveränität ist aus Versichertenperspektive ambivalent: Zwar wird der Wert gestärkt, indem Versicherte auch rechtlich als Besitzer*innen ihrer Daten gedacht werden, jedoch wird den Versicherten dadurch auch ein Großteil der Verantwortung für ihre Daten übertragen, ohne dass sie zu jeder Zeit angemessen über die Konsequenzen ihrer Entscheidungen informiert wären. Wie dargestellt, bieten Krankenversicherungen keine technischen Insellösungen an, bei denen der Datenfluss zwischen Versicherten und Versicherung beschränkt wäre. Als Resultat erhöhe sich die Anzahl an Stakeholdern mit jeweils eigenem Interesse an den Daten. Für eine Teilhabe am Bonusprogramm muss daher den Einschränkungen des persönlichen Datenschutzes durch die je genutzten Plattformen zugestimmt werden.

Die Realisierbarkeit von Datensouveränität steht und fällt mit der Informiertheit der Versicherten. Da keine der Versicherungen in ihren Nutzungsbedingungen das komplette DatenÖkosystem abbildet, kann nicht von der Informiertheit der Versicherten ausgegangen werden. Inwieweit eine solche Darstellung überhaupt
möglich und logisch nachvollziehbar wäre, ist zudem fraglich. Die Einwilligung in die Nutzungsbedingungen (auch der notwendigen anderen Unternehmen) darf daher nicht mit informed consent (informierter Einwilligung) verwechselt werden.

Vor diesem Hintergrund wird betont, dass die Datendistribution in den unterschiedlichen Informationsnetzwerken und Clouds längst so unüberschaubar geworden ist, dass eine
„technische Verunmöglichung des Nachvollzugs […] den Rechtsanspruch auf Informiertheit [konterkariere]; dieser Anspruch ist gegenwärtig also eher als eine Rechtsfiktion aufzufassen, die weniger der Gesundheit des Patienten als der Auswertung seines Datenkörpers durch Dritte dient“ (Arnold 2020).
Hier sollte sowohl rechtlich als auch anwendungspraktisch nachgebessert werden.

Bislang sind die Versicherungen durch ihre Abhängigkeit von Plattformanbietern selbst nicht souverän. Zumindest auf der Ebene der Wearables aber gibt aus dem Umfeld von AOK Systems Überlegungen, eigene Angebote zu machen. Wenn sich Krankenversicherungen dazu entscheiden, PAYLTarife oder Bonusprogramme unter Berücksichtigung von Datensouveränität anzubieten, wäre es ratsam, eigene Funktionen in deren Apps zu implementieren, die die Endgeräte bzw. deren Sensoren direkt ansprechen. Hierdurch müssten sie zwar die Datensicherheit selbst gewährleisten, wären aber nicht auf externe Anbieter und deren Datenpolitik angewiesen. Selbst in diesem Falle bliebe der Weg der Daten hin zur Krankenversicherung lang und mit zahlreichen Risiken verbunden.


3. Überbetonung individueller Gesundheitsverantwortung (Responsibilisierung)

Die Diskussion um PAYL unterliegt aus soziologischer Perspektive einem ‚Individualisierungsfetisch‘. Dies beginnt bereits bei der Frage danach, wer PAYL brauche bzw. wolle: Versicherte werden im Kontext des sog. Responsibilisierungsparadigmas nicht nur als Verantwortliche ihres eigenen Gesundheitshandelns gerahmt, ihnen wird zudem unterstellt, selbst nach neuen Tarifen und folglich nach dem Umbau
des bisherigen Krankenversicherungswesens zu verlangen:
„Die klassischen Preismechanismen der Versicherer mit ihren starren Kalkulationsgrundsätzen werden der Nachfrage nach individuellen, risikoadäquaten Tarifen nicht mehr gerecht“ (adesso AG 2015: 70).

Für einen solchen Kundenwunsch konnten allerdings keine empirischen Belege gefunden werden.

Sozioökonomische, genetische und schicksalsbedingte Faktoren werden durch die individualisierte Rahmung von Gesundheitsverantwortung verstärkt ausgeblendet. Staatliche und gesellschaftliche Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung gerät damit aus dem Blick. Der Ausblendung der Systemebene (im Gegensatz zur Handlungsebene) sollte diskursiv gerade auch durch verbraucherpolitische Maßnahmen, Aufklärung und Kommunikation entgegengewirkt werden.

Es ist nicht auszuschließen, dass die zunehmende Fokussierung auf die individuelle Verhaltensebene eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems begünstigt. In den Medien sowie in den Fachmedien der Versicherungswirtschaft wird bei der kritischen Betrachtung von PAYL besonders diese Möglichkeit diskutiert. Zudem wird auf potenziell negative Auswirkungen auf vulnerable Gruppen verwiesen. Risiken für das Solidarprinzip sieht die Verbraucherschutzministerkonferenz sogar für die PKVen (vgl. VSMK 2019: 61). Demgemäß empfiehlt sie,
„Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten möglichst von der Prämiengestaltung und etwaigen Beitragsrückerstattungen zu entkoppeln. Sofern die in TelematikProgrammen enthaltenen Präventionsmaßnahmen tatsächlich eine Minderung der Ausgaben für Versicherungsleistungen bewirken, würden von den Überschüssen alle Versicherten und auch das Versicherungsunternehmen selbst profitieren“ (ebd. 62). Dieser Empfehlung sollte auf die gesetzlichen Krankenkassen erweitert werden.

4. Mangelnde medizinische und wirtschaftliche Evidenz

Für die Krankenkassen in Deutschland besteht nach § 1 SGB V der gesetzliche Auftrag, u.a. Prävention zu leisten. PAYLBonusprogramme werden von den im Forschungsprojekt interviewten Stakeholdern, die sich eher affirmativ zu PAYL äußern, als ein Instrument gesehen, diesem Präventionsauftrag auch zu entsprechen. Prävention hat nicht zuletzt deshalb eine wirtschaftliche Komponente, weil die Ausgestaltung von PAYL als Bonusprogramm rechtlich erfordert, dass die Aufwendungen sich mittelfristig selbst finanzieren. Gesundheitliche Prävention und wirtschaftlicher Nutzen stehen daher bei PAYL in einer Wechselwirkung.
Interviewte Proponent*innen und Opponent*innen von PAYL sind sich jedoch uneinig darüber, ob Prävention erreicht wird. Ebenso bezweifeln sie, ob tatsächlich Kosten eingespart werden. PAYL hat ein Evidenzproblem: Sowohl Präventivwirkung als Kostenersparnis, die gleichermaßen auf Versicherten als auch Versicherungsseite als erstrebenswert betont werden, sind nicht ausreichend belegt. Nach Auffassung einiger interviewter Expert*innen sind diese Fragen schwierig bis unmöglich aufzulösen.
Im besonderen Maße gilt dies für die Möglichkeit von Prävention. Zwar wird Gesundheitsförderung (neben dem finanziellen Einsparpotenzial) von Krankenversicherungen als der Hauptgrund für den PAYLAnsatz artikuliert. Wie er sich aber zu anderen Präventionsansätzen verhält und ob ein Zusammenhang festgestellt werden kann, wurde bisher nicht nachgewiesen. Stakeholder wie die Verbraucherschutzministerkonferenz
sowie der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen sehen die Präventivwirkung nicht belegt (vgl. VSMK 2019; SVRV 2018). Im Forschungsprojekt interviewte Expert*innen mit wissenschaftlichem Hintergrund stellen aufgrund der komplexen Erhebungsbedingungen von Selbstvermessung sogar die empirische Realisierbarkeit einer Untersuchung zu Präventivwirkungen in Frage.

Der Wunsch nach Verknüpfung von Selbstvermessung und Versicherungssystem wird auch dahingehend problematisch, wenn die Kurzlebigkeit, die die Praxis der Selbstvermessung begleitet, zugrunde gelegt wird. Vor diesem Hintergrund verweisen Forscher*innen auf den nachweisbaren Trendfaktor digitaler Selbstvermessung, z. B. Ledger und McCaffrey (2014):
„recent surveys showed that 32% of users stop wearing these devices after six months, and 50% after one year. Many wearables suffer from being a ‚solution in search of a problem‘“ (zit.n.: Piwek et al. 2016).

In den Interviews mit Anwender*innen finden sich erste Anzeichen dafür, dass die intrinsische Motivation für gesteigerte Bewegung durch PAYL nicht nur zu sondern paradoxerweise sogar abnehmen könnte.
Kostenersparnis wirkt zumindest auf Seite der Kund*innen realistisch. Die Teilnahme an PAYLBonusprogrammen wird von interviewten Anwender*innen durchweg als „lohnenswert beschrieben. Die Werte Gesundheit und Kosteneinsparung sind im Fall von PAYLBonusprogrammen auch rechtlich miteinander verzahnt: Nach Paragraph 65a Absatz 3 SGB V sind die Krankenkassen verpflichtet, den wirtschaftlichen Erfolg von Präventionsmaßnahmen nachzuweisen, um aus diesen Einsparungen Boni finanzieren zu dürfen. Man könnte davon ausgehen, dass eine Entsprechung des Wertes Kostenersparnis auch bedeute, die Maßnahmen seien präventiv wirksam. Bisher ist dies jedoch nicht belegt. Präventionswirkungen können auch auf andere Gründe zurückgeführt werden. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass die Maßnahmen bereits Kunden mit einer positiven Risikoselektion ansprechen, also bereits sportlich aktive, junge und sozioökonomisch besser gestellte Menschen (vgl. Arentz, Rehm 2016: 6f.). Zudem wurde im Interview mit einem Stakeholder aus der gesetzlichen Krankenversicherung bestätigt, dass die rechtlich vorgesehene Evaluation die gesamten Präventionsprogramme einer Krankenkasse gebündelt evaluieren kann, ohne PAYL gesondert zu betrachten.

Eine interviewte Versicherungsmathematikerin der Deutschen Aktuarvereinigung sieht im Bereich der Tarife das Problem, dass man mindestens 20 Jahre alte Daten bräuchte, um die finanzielle Sinnhaftigkeit von PAYL beurteilen zu können eine Herausforderung für die übereilte Implikation technologischer Systeme. Selbst die Hoffnung, dass trotz der mangelnden Evaluationsmöglichkeiten faktische Kostenersparnis realisiert werden kann, ergibt sich für die Versicherungen aus der Bindung von Versicherten mit positiver Risikoselektion. Als ‚first mover‘ besteht die Chance, diesen Vorteil gegenüber anderen Versicherungen auszubauen. Doch auch wenn dies kurzfristige Profite zeitigen sollte, geben Arentz und Rehm zu bedenken, dass es längerfristig anders aussehen könnte: Durch kurzfristige Ersparnis könnte den Versicherungen langfristig der Wert der Kostenersparnis bedroht sein:

„[E]ven a certain behavior that positively causally affects one’s health and thus decreases shortterm health care expenditure might not reduce one’s lifetime health care expenditure. If individuals live shorter, they are less likely to develop severe diseases that adjusting one’s behavior cannot help to avoid. The cost of treating these diseases in later stages of life might exceed the cost of treating those diseases correlated to an unhealthy lifestyle. Empirically, this has been shown for smoking (Barendregt et al. 1997) and overweight (van Baal et al. 2008) for instance. In that case, the insurance system as a whole would ‚profit‘ from unhealthy habits because they would lead to less costs for the system in the long run.“ (Arentz, Rehm 2016: 5)

Den normativen Horizont dieser Annahmen außer Acht lassend könnte (‚zynisch‘ betrachtet) der Wert Kostenersparnis langfristig für das Gesundheitssystem und letztendlich auch das Rentensystem also gefährdet sein. Die medizinische und wirtschaftliche Evidenz von PAYL sollte von einem unabhängigen Gremium untersucht und mit anderen Präventionsmaßnahmen abgeglichen werden. Einige interviewte Expert*innen favorisieren umfassendere staatliche Präventionsangebote, wie sie in
anderen Ländern üblich sind, gegenüber kleinteiligen und versicherungsgetriebenen Angeboten. Besonders hier scheint ein Vergleich sinnvoll.

Literatur:

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Hauptautor: Prof. Dr. Stefan Selke

 

PM Verbraucherkommission BW

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