Im Kulturbereich spricht man von „schlafenden Ausstellungen“ – das sind Ausstellungen, die Jahre zuvor geplant, wohl überlegt und schließlich präzise aufgebaut sind, aber durch die aktuelle Situation nicht besucht werden können. So auch die Jahresausstellung des Kunstvereins Göppingen: Johanna Diehl. Broken Repertoire. Seit November 2020 sind alle Termine diesbezüglich in der Warteschleife – nun ist die Ausstellung aufgebaut und digitale Formate können ab sofort besucht werden, wie Führungen im Vermittlungsprogramm und ein Film, der Künstlergespräch und Dokumentation beinhaltet.
Der Kunstverein Göppingen schätzt sich glücklich, Arbeiten der 1977 geborenen, international vielfach ausgezeichneten Fotokünstlerin Johanna Diehl in der Einzelausstellung „Broken Repertoire“ in der Kunsthalle zu zeigen. „Broken Repertoire“ bezieht sich auf die gleichnamige Videoarbeit aus dem Jahr 2019, aber auch auf das Bildrepertoire der Künstlerin, das sie immer wieder in neuen Konstellationen ordnet und arrangiert. Anhand von Johanna Diehls Werk drängt sich die Frage auf, zu was Fotografie fähig ist. Zum einen, wie Roland Barthes in seinen Bemerkungen zur Fotografie „Die helle Kammer“ betont, ist die Aufgabe der Fotografie die Dokumentation: „So war es“. Zum anderen fordert die Fotografie von jedem Betrachtenden, sich der unbeugsamen Realität zu stellen. Die Künstlerin Johanna Diehl fügt den von Barthes zugewiesenen Merkmalen der Fotografie eine weitere äußerst spannende Dimension hinzu. In einer sublimen Gegenüberstellung von historischem und aktuellem Bildmaterial ergibt sich ein assoziativer Diskurs. Ihr Großonkel Arnold Bode, der 1955 die documenta in Kassel gegründet hat, prägte bereits die Praxis des „Visuellen Begreifens“, indem er Werke der klassischen Moderne dialogisch gegenüberstellte. Der überwältigende öffentliche Erfolg der documenta ist zwischen Nachkriegstrauma und Modernisierungswille zu verorten. Und punktgenau hier setzt Johanna Diehl ihre künstlerische Arbeit in der Kunsthalle Göppingen an: Es ist die Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit, der Moment zwischen bleiernem Stillstand, psychischer Versehrung und kulturellem Aufbruch, den sie mit aktuellen Aufnahmen konfrontiert.
In der Werkreihe „Dead Dad Wild Country“ inszeniert Johanna Diehl einen Dialog zwischen privaten Reisefotos aus dem Bildarchiv der Großeltern und aktuellen Aufnahmen von Requisiten einer Inszenierung Johann Kresniks. Auch ohne genaues Wissen der privaten Familiengeschichte erspürt man im Diskurs der Bilder einen fast körperlichen Mangel, eine Leerstelle. Der Tänzer Yotam Peled vollzieht in der Videoarbeit „MARS“ einen inneren Kampf im Ambiente der in den 1960er Jahren gebauten Villa Domnick im Heute nach. Die gefeierte Moderne, die die Wand im Hintergrund füllt, die Offenheit der Architektur und das zeitgenössische Mobiliar, stehen im klaren Gegensatz zu dem um Selbstausdruck ringenden Protagonisten. Nichts scheint offen, frei und überwunden. Die Videoarbeit verweist auf das gleichnamige autobiografische Buch von Fritz Zorn, das 1977 erschien und zum Kultbuch der Nachkriegsgeneration avancierte. Schilderte der Autor doch die Unmöglichkeit des Daseins in der Doppelmoral von selbstverliebter Bürgerlichkeit und historischer Verdrängung. Gleichbedeutend bewegt sich der Tänzer in einer Atmosphäre des Verneinens, die einer historischen Lücke gleichkommt.
Bereits in ihren frühen Arbeiten widmet sich Johanna Diehl dem Erkunden von Orten in Europa, die durch den Lauf der Geschichte eine Umwandlung erfahren haben. Beispielsweise reist sie mit ihrer Plattenkamera in die Ukraine, sucht ehemalige Synagogen auf, die zu Sporthallen, Kinos oder Fabriken umgenutzt wurden. Sie geht dabei der Frage nach, was in den Orten von ihrer Geschichte durchdringt. Sie spürt dem Verborgenen und Übersehenen im kulturellen und kollektiven Gedächtnis nach. Die Anwesenheit vom Abwesenden, ist sie sichtbar oder spürbar? Was Johanna Diehl in ihren Reisen und in diesen Werkreihen untersuchte, wird in der Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen zu einem Blick in das Private der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit.
…und Donnerstag digital
Solange die Kunsthalle die Besucher/-innen noch nicht analog in den Ausstellungen empfangen kann, werden in diesen besonderen Zeiten digitale Einführungen und Führungen angeboten. Die erste digitale Führung wird am Donnerstag, 6. Mai, von 18 bis circa 18:40 Uhr stattfinden und sich inhaltlich mit der Jahresausstellung des Kunstvereins Johanna Diehl. BROKEN REPERTOIRE beschäftigen. Die Führung ist kostenfrei; der Link ist auf der Homepage der Kunsthalle hinterlegt.
Foto: 1. Ausstellungsansicht Johanna Diehl. Broken Repertoire / Kunstverein in der Kunsthalle Göppingen 2021 / Bildrechte bei Johanna Neuburger
PM Stadtverwaltung Göppingen