Das politische Wort zum Sonntag über das Fehlverhalten meiner Vorfahren ab April 1945

Im April 1945 endete der Zweite Weltkrieg und die NS-Knechtschaft für meinen Urgroßvater Karl Braun mit dem Einmarsch der US-Army in seinem Heimatdorf. Für alle, die hier noch nicht so lange dabei sind: Opa Karl war überzeugter Nazi-Gegner und im erweiterten passiven Widerstand, wofür ich ihn sehr bewundere. Die Militärverwaltung wollte ihn deswegen auch zum Bürgermeister ernennen, was dieser aber ablehnte, weil er noch immer frustriert über die NS-Anhänger und die Gegner war, die ihn aber nicht unterstützten. Er hat mit seinem Land und seinem Dorf abgeschlossen und wollte nur noch seine Ruhe.

Leider waren nicht alle Vorfahren von mir so heldenhaft wie er. Nein, die Erzeuger meines anderen Großvaters haben Fehlverhalten und Schuld auf sich geladen, das seinesgleichen sucht und die ich dafür nur verachten kann. Ich habe mich darum entschlossen, anlässlich des 80. Jahrestag diese Vorkommnisse im Rahmen einer Anklage und einer Verteidigung, die ein befreundeter Schöffe übernahm, darzustellen. Ich betone, dass dies rechtlich keinesfalls korrekt ist, sondern es geht eher um den moralischen Faktor. Ein „Urteil“ gibt es nicht, dies soll sich jeder selbst bilden.
Anklage:

Den Angeklagten Otto Kunz (geb. 1899 in der Provinz Posen) und Anna Kunz (geb. 1900 in Schlesien) wird folgendes zur Last gelegt:

Im Januar 1945 flohen sie mit ihren fünf Töchtern (der Sohn war im Krieg) von Wohlau in Niederschlesien vor der heranrückenden Roten Armee in die Hansestadt Rostock, wo die Firma des Angeklagten eine Zweigstelle hatte. Im Januar 1945 war diese Aktion durchaus plausibel und nachvollziehbar, aber später spielte auch die Zweigstelle der Firma keine entscheidende Rolle mehr.

Obwohl Ende April 1945 die Rote Armee im Osten immer weiter in Richtung Rostock vorrückte und die Briten sich im Westen Wismar näherten, verblieben sie in Rostock. Trotz intensiver Recherchen konnten keine Gründe ermittelt werden, die die Untätigkeit nachvollziehbar machen oder rechtfertigen konnten. Zum damaligen Zeitpunkt war Hitlers Verbleib und späterer Tod nicht einwandfrei nachweisbar, so dass man nicht absehen konnte, wie es noch weitergehen wird.

Als die Rote Armee am 1. Mai 1945 Rostock besetzte, wurde ihre älteste Tochter Rita beinahe von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Lediglich das todesmutige Einschreiten von Eva Hirsch, die der russischen Sprache mächtig war, konnte verhindern, dass die Tat verübt wurde. Aufgrund dieser traumatischen Vorkommnisse waren die anwesenden Töchter ihr Leben lang gezeichnet, was sich auch auf deren Verhältnis untereinander auswirkte, während der Sohn, der nicht dabei war, zu allen Schwestern ein gutes Verhältnis hatte. Selbst eine von Grund auf schäbige Person wie Magda Goebbels verhinderte im Gegensatz zu den Angeklagten, dass ihre Kinder den Bolschewisten in die Hände fielen (natürlich hätte sie andere Möglichkeiten gehabt, ihre Kinder zu retten, aber das ist ein anderes Thema).

Hätten die Angeklagten sich bereits vorher Richtung Westen auf den Weg gemacht, hätte diese für alle Kinder traumatische Tat verhindert werden können. Eva Hirschs Heldenmut kann sich darüber hinaus nicht strafmildernd für die Angeklagten auswirken. Sie werden daher der Vergewaltigung durch Unterlassung beschuldigt.

Obwohl schnell abzusehen war, dass sich die SBZ wesentlich schlechter als die anderen Zonen entwickeln wird, die Angeklagten dem Stalinismus ablehnend gegenüber standen und die Angeklagte fundamental katholisch war (statt ihren Kindern wirkliche Werte zu vermitteln, zwang sie ihnen den Katholizismus auf, was im protestantischen Mecklenburg und der religionsfeindlichen DDR umso unglaubwürdiger war – ein Leben in einem katholischen Teil der BRD wäre schon allein unter diesen Umständen besser gewesen), unternahmen sie keine Anstrengungen, sich in den Westen abzusetzen. Der Angeklagte war bis 70 berufstätig und damit Scherge von Stalin, Chruschtschow und Breschnew, anstatt seine Arbeitskraft der demokratischen Bundesrepublik zur Verfügung zu stellen.

Auch als ihre älteste Tochter Rita 1950 und Sohn Werner 1953 in die BRD flohen, machten die Angeklagten keine Anstalten, ihnen mit ihren jüngeren Kindern zu folgen, was zu einer Trennung der Familie führte, die hätte verhindert werden können.

Verschärfend wirkt sich zudem aus, dass die Angeklagten nach der Verrentung des Angeklagten regelmäßig in den Westen fuhren, sich von ihren dort lebenden Kindern dort aushalten ließen, während ihre Nachkommen keine Gelegenheit hatten, die BRD zu besuchen. Da das DDR-Geld im Westen nichts wert war, konnten sie auch dort nichts ausgeben.

Die Angeklagten machten sich daher des Hochverrats schuldig. Die Angeklagte durch Unterlassung, der Angeklagte durch aktive Unterstützung des Schurkenstaats DDR.

Strafforderung:

Anlässlich des massiven Fehlverhaltens bleibt nur eine lebenslange Freiheitsstrafe mit der Feststellung der besonders schweren Schuld.

Verteidigung:

Es war für den Einen oder Anderen im Januar 1945 absehbar, daß Wohlau in Niederschlesien (etwas mehr als 100km Luftlinie von der heutigen deutsch-polnischen Grenze entfernt) zukünftig nicht mehr zu Deutschland gehören würde. Oder man flüchtete wirklich nur vor der roten Armee und hoffte auf Wiederkehr. So oder so hatte man aber zumindestens in Rostock eine deutsche Bleibe. Im Falle des Angeklagten sogar mit Zweigstelle seiner Firma, was für ihn hieß, das zumindestens eine gewisse Vertrautheit blieb.
Die versuchte Vergewaltigung von Rita ist schlimm und hat viel Leid erzeugt. Sie ist aber im Zweifel mit den sowjetischen Soldaten anzuhängen und nicht den Angeklagten. Zumal nach einer bereits erfolgten Flucht es nicht zumutbar gewesen wäre, erneut zu flüchten. Die versuchte Vergewaltigung erfolgte am 1. Mai 1945. Hitler war bereits tot, und Ende April deutete sich auch durch die Einkesselung Berlins an, daß der Krieg binnen von Tagen vorbei sein würde. Warum also erneut flüchten? Die Vergewaltigung durch Unterlassung weiße ich daher auf’s Schärfste zurück, zumal es keine vollendete Vergewaltigung sondern nur ein Versuch war. Umso größer möchte ich ausdrücklich das ehrenwerte Handeln von Eva Hirsch hervorheben. Ohne sie wäre es eine tatsächliche vollendete Vergewaltigung geworden. Und es gab noch mehr Frauen wie sie, die in dieser Zeit schlimme Taten verhindern konnten.

Interessanterweise waren es vor allem die jungen Menschen, die die DDR vor und nach dem Mauerbau verlassen haben. Die Angeklagten sind seit 1945 in Rostock gewesen, konnten sich dort auch wieder ein gewisses soziales Umfeld aufbauen und waren dann ab 1949 bzw. 1950 über 50 Jahre alt. Sie werden nach den Kriegsjahren zufrieden gewesen sein, eine wirtschaftliche Sicherheit zu haben, ein Dach über den Kopf und kein Hunger leiden zu müssen. Sicherlich werden sie das SED-Regime nicht begrüßt haben, und wären froh gewesen, wenn sie ihren Katholizismus hätten offen leben können, aber sie werden auf Grund ihrer biographischen Erfahrungen (Kaiserzeit, 1. Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit) es vorgezogen haben sich politisch neutral zu verhalten, um in Ruhe ihren Glauben leben zu können. Und ihren Lebensabend zu verbringen. Vielleicht haben sie sogar an die Friedensreden der SED-Politiker geglaubt und sich am gesagt haben: „Frei sind wir zwar nicht ganz, aber immerhin haben wir den Frieden, das Allerwichtigste“? Von daher ist es in meinen Augen verständlich, seine Arbeitskraft dem Betrieb zu geben, den man schon aus seiner Heimat in Wohlau kennt. Immerhin haben sie einen Teil ihrer DDR-Rente dann im Westen ausgegeben, was der BRD-Wirtschaft zu Gute kam.

Forderung:
Ich plädiere daher in allen Punkten auf Freispruch.

Epilog:
Werte Lesende, Anna und Otto Kunz sind typische Beispiele von Menschen, wie es sie so häufig gibt: sie machten es sich bequem, haben sich arrangiert und sich in ihre private Nische zurückgezogen. Und das ist in Ordnung. Soll man jemanden vorwerfen, kein Held zu sein? Wir dürfen nur auf uns schauen. Es gab in der DDR aber eben auch einige Wenige, die schon vor 1989 Widerstand geleistet haben. Die es dem SED-Regime schwer gemacht haben. Deswegen seien Sie sich bewusst: Wirkliche Freiheit heißt Verantwortung 1. für das eigene Tun 2. für den Anderen und 3. Mitverantwortung für die Entwicklung der Menschheit.
Marcel Kunz

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