Sind Religionen Friedensstifter oder Brandstifter? Von ihren Ursprüngen her müßten sie zu Frieden und Mitmenschlichkeit beitragen – so die These des Tübinger Projekts „Weltethos“, das der Theologe Hans Küng begründet hat. In der Praxis jedoch haben Glaubensgemeinschaften Kriege viel zu oft mit religiösen Parolen heftig befeuert!
Bei Diskussionen über Religion und Kirche werden uns diese unseligen Verirrungen immer wieder vorgehalten. Als Beispiele werden die Kreuzzüge und viele andere Kriege bis in unsere Zeit angeführt. Wir verweisen dann gern auf leuchtende Gegenbeispiele von religiösen Friedensstiftern wie den Heiligen Franziskus, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und die vielen christlichen Friedensinitiativen. Traurige Brisanz erhält dieses Thema zur Zeit durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Da stehen sich Christen und Kirchen derselben Konfessionsfamilie, die sich alle auf Jesus Christus berufen, in tödlicher Feindschaft gegenüber. Metropolit Kyrill I. von Moskau sieht die russische Armee im heiligen Kampf gegen die in seinen Augen „widergöttliche Dekadenz des Westens“. Allen Soldaten, die in diesem Krieg in Erfüllung ihrer militärischen Pflicht getötet werden, verspricht er die Vergebung all ihrer Sünden. Ihr Opfer für andere wasche alle ihre Sünden ab. Man reibt sich die Augen. Ist das nicht blanker blasphemischer Zynismus, der Tausenden von jungen Soldaten den Tod in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg religiös schmackhaft machen will? Und keinerlei Mitgefühl für das Leiden der Opfer auf der anderen Seite zeigt?! Religion als Kriegstreiberin. Man ist an den mittelalterlichen Ablaßhandel erinnert. Da stellte ein Papst den Kreuzrittern im Voraus Ablässe für ihre Sündenstrafen in Aussicht. Das war wie ein Freibrief für alle Gräueltaten. Wir dachten, das Mittelalter sei überwunden.
Auf den gekreuzigten Jesus können sich die religiösen Kriegstreiber jedenfalls nicht berufen. Er ist selbst zum Opfer von religiösen Eiferern und machtgierigen Autoritäten geworden. Er hat Folter und einen schrecklichen Tod am Kreuz erlitten, weil er den barmherzigen und liebenden Gott verkündete. So zog er den Haß der Mächtigen auf sich, die ein anderes Gottesbild hatten und um ihre Vorzugsstellung fürchteten.
Sein Kreuz wurde zur Signatur unserer Welt, die aus tausend Wunden blutet. In der Menschen millionenfach zu Opfern von Unrecht und Gewalt gemacht werden. Sein Kreuz ruft uns ins Gewissen: Seht doch, was Haß und Machtgier anrichten!
„Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser!“ singen wir in der Abendmahlsliturgie. Wir beklagen die Wunden unserer Welt. Wir bitten um Anteil an der Kraft Jesu, der die Zerrissenheit mitträgt und im Mitleiden überwindet. Ja, überwindet! Diese trotzige Hoffnung gegen allen Augenschein ruft der Gekreuzigte in uns wach. Nicht Gewalt und Haß, sondern die Kraft seiner Liebe wird recht behalten. Die ihn vernichten wollten, haben verloren. Aber noch ist nicht Ostern. Noch sind wir mitten in der Passionszeit und lassen uns den Schmerz der Welt zu Herzen gehen. Noch klagen wir mit den Opfern und hoffen auf ein Ende der Schrecken. Gott sei´s geklagt!
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen