Im Urlaub auf der Insel ist das selbstverständliche „Moin“ bei jeder Begegnung und Tageszeit erst mal gewöhnungsbedürftig, auch wenn ich weiß, dass es nicht die Kurzform für Guten Morgen ist. Auch das „Pfiat di“ in Bayern kommt mir erst mal nicht so leicht von der Zunge, ich murmle dann lieber das gewohnte Hallo. Eigentlich schade, denn in vielen traditionellen Grußformeln verbergen sich Wünsche oder Anliegen, die von Herzen kommen, wie ja auch in unserem Grüß Gott. Wussten Sie z.B. , dass Pfiat di “behüte dich“ bedeutet? Das schafft doch gleich eine besondere Nähe zwischen völlig fremden Menschen.
Irgendwo an einer Straßenkreuzung in Louisville, Kentucky steht eine Tafel mit der Aufschrift: There are no strangers – es gibt keine Fremden. Sie erinnert an den amerikanischen Mönch und Dichter Thomas Merton, der genau diese Erkenntnis hatte, als er Ende der 50 er Jahre an jener Kreuzung stand und die vielen unbekannten Menschen wahrnahm, die an ihm vorbeizogen. Junge, Alte, verschiedene Hautfarben und Nationalitäten, Reiche und Arme. Ganz plötzlich sah er nicht mehr, was ihn von diesen unterschied, sondern was ihn mit allen diesen Menschen verband: Das Mensch-Sein auf einer ganz tiefen, spirituellen Ebene. Wir erleben das oft ganz anders. Ich muss gar nicht erst über meinen kulturellen Tellerrand schauen, um befremdet zu sein von dem, wie andere ticken oder was ihnen wichtig ist. Manchmal reichen ja schon die Eigenarten eines Nachbarn oder der Kollegin, die mich irritieren oder ganz einfach nerven. Alles, was nicht in mein Denk- und Wertesystem passt, erlebe ich schnell als fremd und trennend. Ich fühle mich herausgefordert und stehe in der Gefahr, das Andersartige und Fremde abzuwerten. Aber was alles könnte möglich sein, wenn sich stattdessen ein neugieriges Wahrnehmen und Verstehen wollen in den Vordergrund schieben würde? Welche Bereicherung für mein Denken und Handeln wäre vielleicht die Folge? Und was könnten wir als Menschen und nicht mehr als Fremde alles miteinander bewegen? „Zukunft denken, Zusammenhalt leben: Das machen wir gemeinsam“ ist das aktuelle Motto der Caritas, die in diesem Jahr ihr 125- jähriges Jubiläum feiert. Gerechtigkeit, Solidarität, Nächstenliebe und Respekt waren und sind in all diesen Jahren dabei die leitenden Werte gewesen. Und für die aktuellen großen Herausforderungen unserer Zeit sind sie wichtiger denn je. Auch diese bewältigen wir nur gemeinsam und dabei ist jede und jeder wichtig und kann Einfluss nehmen.
Jesus wird einmal von den Pharisäern gefragt, wer denn unsere Nächsten sind, denen wir mit Liebe und Respekt begegnen sollen und antwortet darauf mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Der war ein Fremder und Andersgläubiger und hat sich als einziger um den verletzen Mann gekümmert, der zwischen Jericho und Jerusalem unter die Räuber gefallen war. Thomas Merton hat den Geist dieser Geschichte an der Kreuzung in Louisville ganz neu gespürt. Lassen wir uns davon anstecken. In diesem Sinne: Pfiatdi!
Sabine Stövhase