Seit dem Irakkrieg von 2003 trifft sich in der Stiftskirche Faurndau jeden Freitag (mit Ausnahme der Ferien) um 18 Uhr eine kleine Gruppe von Christinnen und Christen zum ökumenischen Friedensgebet. Fast zwanzig Jahre haben sie bis heute durchgehalten. Es sind zwischen sechs und zwölf Teilnehmende. Sie folgen einer einfachen Liturgie: Lied, Psalm, Situationsbericht, Stille, Fürbitten, Vaterunser, Taizélied, Segen.
Sie benennen vor Gott aktuelle Beispiele von Unrecht, Not und Leid. Sie wollen die Nöte von Mensch und Kreatur nicht achselzuckend und klaglos hinnehmen. Sie nehmen Anteil und drücken in den Fürbitten ihre Fragen, ihre Klagen, ihren Protest, ihre Bitten, ihre Hoffnung auf eine Wende zum Guten aus. Die Hinwendung zu Gott und die Gemeinschaft untereinander helfen ihnen, die Not der Welt wahrzunehmen, standzuhalten und ihr Vertrauen in die Kräfte des Friedens zu stärken. „Was haben denn Eure Friedensgebete für einen Wert?“, fragte mich einst ein Nachbar, als ich auf dem Weg zur Kirche war, „ die Kriegstreiber machen sowieso, was sie wollen. Meint Ihr, Ihr könnt sie mit Euren Gebeten stoppen?!“ Angesichts des brutalen Überfalls Rußlands auf die Ukraine fällt mir diese Frage wieder ein. Wir hatten gedacht, dass nach den furchtbaren Schrecken des zweiten Weltkriegs – bei dem die Sowjetunion weitaus die meisten Opfer zu beklagen hatte – ein Angriffskrieg um Land und Einfluß in Europa undenkbar geworden sei. Wir sind jäh herausgerissen worden aus dieser Hoffnung. „Was nützen da die Gebete?“ – die Frage berührt ein brisantes Thema unseres Glaubens. Können wir mit unseren Gebeten Gott dazu bringen, dass er als der Weltenherrscher von oben eingreift und mit einem Fingerschnippen das Leid beendet? Das wünschten wir uns manchmal, müssen aber erkennen, daß sich Gott nicht ausrechnen und manipulieren läßt. Wie kann Gott das Leid unschuldiger Menschen zulassen? Wir müssen immer wieder diese bohrende Frage stellen. Sie bleibt offen, wir haben keine abschließende Antwort. Gott ist die Liebe, lesen wir in der Bibel. Aber wie passen dazu die unfaßbaren Katastrophen von Gewalt, Krieg und Not in der Welt? Die Welt ist voller Widersprüche. Dass da Zweifel an Gott aufkommen, ist folgerichtig und verständlich. Das Zweifeln gehört zum Gauben wie das Loben. Manche wenden sich ab. Andere wenden sich wie die Psalmbeter der Bibel umso dringlicher an Gott. Sie drücken vor ihm ihre Zweifel, ihre Fragen, ihre Klagen aus. Sie nehmen Anteil am Leiden der Opfer. Sie lassen nicht locker im Bitten um Frieden und der Gerechtigkeit. Sie geben der Not eine Sprache und widerstehen der Versuchung zu Verzagtheit und Resignation. Sie tun was – und sei es „bloß“ das Beten. Wenn man sie fragt: Was nützen eure Gebete?, antworten sie: Sie geben uns Halt. Sie stärken unser Vertrauen. Sie halten uns trotz allem offen für Gott und seine Kraft des Friedens, die es ja auch gibt.
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen