„Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“ lese ich in einer Kirche auf einer Gedenktafel für Kriegstote des ersten Weltkriegs. Darunter sind lange Reihen von Namen aufgeführt. Die meisten waren zwischen 20 und 30 Jahre alt. Auch 18-Jährige entdecke ich. Ein Meer von Tränen ist um sie geweint worden.
In jedem Dorf, in jeder Stadt sind solche Denkmäler zu finden. Oft haben Kirchengemeinden den Gedenktafeln einen Platz in ihrer Kirche eingeräumt – so wie hier. Die Toten sollten im Gedächtnis der Gemeinde aufbewahrt und in die Fürbitte aufgenommen werden. Das Gotteshaus der Gemeinde ist schon der richtige Ort, der Opfer vor Gott zu gedenken. Aber die Überschrift auf der Tafel bringt mich ins Grübeln. „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“, ein Satz des Apostels Paulus (Phil. 1,21). Ähnliche Bibelworte hab ich auf anderen Gedenktafeln gelesen. Zum Beispiel: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben“
(Offbg. 2,10) – Kann man sich so über den schrecklichen Tod im Krieg hinwegtrösten? Ist das nicht
ein verzweifelter Versuch, dem sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld nachträglich einen religiösen
Sinn abzuringen? Sollte das religiöse Mäntelchen die Tatsache verdrängen, dass die jungen Männer in Wahrheit der aggressiv-nationalistischen Kriegsideologie einer größenwahnsinnigen Staatsführung zum Opfer gefallen sind? Ich bezweifle, dass die Soldaten ihr elendes Sterben im Kugelhagel oder im Lazarett als „Gewinn“ empfunden haben oder als Vorfreude auf die „Krone“ der endgültigen Gemeinschaft mit Jesus Christus. Ich kann mir vorstellen, daß der von eine Granate zerfetzte 20-Jährige sein junges Leben in tiefer Verzweiflung oder mit einem Fluch auf diesen tausendmal verdammten Krieg aushauchte. Wie Hohn kommt es mir vor, seinen Tod im Nachhinein irgendwie religiös zu verklären. Da ist doch eher der Klageruf „Herr, erbarme dich!“ angebracht. Zu
oft haben christliche Kirchen Kriege religiös gerechtfertigt. Nach dem Überfall auf Polen 1939 läuteten zum Dank die Kirchenglocken. Der „Führer“ und die Eroberungsarmee wurden ins Kirchengebet eingeschlossen. Für die geschundenen Mitchristen in Polen und die dem Völkermord preisgegebenen Juden betete man nicht. Wir verstehen das heute nicht mehr. Wie konnte man die Friedensbotschaft Jesu Christi so schlichtweg ausblenden? Nach dem Krieg bekannte die evangelische
Kirche im Stuttgarter Schuldbekenntnis: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden…“ Wie könnte ein Totengedenken aussehen, das diesem Bekenntnis entspricht? Ich finde, statt religiöser Verbrämung wäre ein Klagepsalm das Angemessene, etwa so:
„ Aus der Tiefe rufen wir, Herr, zu Dir! Wir beklagen das unermessliche Leid, das wir Menschen mit
Kriegen angerichtet haben. Nimm die Opfer aller Seiten in Deine Arme! Hilf uns, gegen Völkerhaß
und Faschismus aufzustehen! Laß uns für eine Welt arbeiten, in der Menschen und Völker im Frieden miteinander leben. Herr, erbarme dich!“
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen