In der Urkirche wurden alle Getauften, auf die der Heilige Geist herabgekommen war, als „Heilige“ bezeichnet. Der Begriff „Christen“ wurde erst später verwendet. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben war, mussten sich die, die ihm zuvor nachgefolgt waren, entscheiden: Sahen sie in seinem Tod sein Scheitern oder waren sie in der Lage, das Unfassbare zu glauben: ER lebt! ER ist auferstanden vom Tod! Wer diesen Sprung in eine ganz neue Dimension des Glaubens schaffte, wurde zurecht als „Heilige“, beziehungsweise als „Heiliger“ bezeichnet. Die erste Generation der Auferstehungsgläubigen glaubte zudem, Jesus komme als Weltenherrscher in kürzester Zeit wieder. Für ein „unheiliges“ Leben wäre dadurch kaum Zeit geblieben.
Doch die Wiederkunft Christi blieb aus – bis heute. Die „Heiligen“ mussten sich in ihrer je eigenen Zeit mit den je eigenen Gegebenheiten arrangieren. Sie gingen ihren Berufen nach, sorgten für ihre Familien, formten christliche Gemeinschaften in unchristlichen Umgebungen. Der Glanz des Anfangs verblasste im Alltag. Man musste sich mit Streitigkeiten beschäftigen darüber, was als richtige Lehre Bestand haben sollte und was als Irrlehre abgelehnt werden musste…
Wenn ich mir einen neuen Pullover kaufe, ist ihm seine Makellosigkeit eine Zeit lang anzusehen, nach mehreren Waschvorgängen leider nicht mehr… Bezeichneten sich die Getauften deshalb nicht mehr als „Heilige“, weil sie spürten, der Zauber des Anfangs war ihnen verlorengegangen? Heiligkeit entpuppte sich allzu oft als Scheinheiligkeit…
Schon Jesus störte sich an der Scheinheiligkeit mancher „Frommen“ seiner Zeit: Ihr nehmt Ehrenplätze ein, während euch das Schicksal armer und rechtloser Witwen gleichgültig ist! Und er verweist auf eine Witwe, die zwei Münzen in den Opferkasten wirft. In seinen Augen ist sie heiliger als alle Schriftgelehrten zusammen.
Unsere großen Kirchen haben nicht erst seit der Aufdeckung viel zu vieler Missbrauchsfälle ein massives Imageproblem. Zurecht wird uns kritisch auf den Zahn gefühlt, wo wir scheinheilig geworden sind. Vertuschungen helfen da nicht, eher selbstkritische Ehrlichkeit. Einfach ist das gewiss nicht, doch wir sind es Gott und den Menschen schuldig, jegliche Scheinheiligkeit aufzufinden. Uns rettet nicht die Angst um das Altehrwürdige, sondern das Vertrauen, dass der Heilige Geist seine Christenheit führt in eine neue Zeit.
Pastoralreferentin Agnes Steinacker-Hessling, Rechberghausen-Wäschenbeuren