Stellen Sie sich vor, Sie sind im Hauptbahnhof in Stuttgart unterwegs zu Ihrem Zug nach Hause. Überall hasten Menschen von hier nach da, möchten irgendwo hin und sind in Gedanken auch schon fast dort. Mittendrin steht ein junger Musiker mit seiner Geige und spielt ein paar Stücke von Bach, in der Akustik der hohen Hallen fliegen die Töne geradezu in alle Richtungen.
Nichts Ungewöhnliches eigentlich und die allermeisten Menschen lassen sich auf ihrem Weg auch nicht aufhalten. Sie schenken den Tönen keine besondere Bedeutung, außer vielleicht das eine oder andere Kind, welches den Kopf dreht und beim Weitergehen gespannt zurückschaut. Genau diese Situation war vor einigen Jahren Teil eines Experiments in der U-Bahnstation in Washington. Der Musiker war ein weltberühmter Geiger, der am Abend zuvor noch im seit langem ausverkauften Konzerthaus zu horrenden Eintrittspreisen gespielt hatte. Mindestens 1000 Menschen strömten in der Stunde an ihm vorbei, nur 6 Leute hielten kurz an; eine Frau, weil sie ihn wiedererkannte. Dieses Experiment warf die Frage auf: Können wir das Schöne wahrnehmen, wenn wir nicht damit rechnen?
Mitten im Frühling und im zweiten Jahr der Coronapandemie mit hohen Infektionszahlen eine spannende und wichtige Frage, wie ich finde. Welche Eindrücke haben sich in den vergangenen Monaten in Ihrer Seele tief eingegraben? Können Sie neben Verunsicherung, Belastungen, Sorgen und Einschränkungen auch noch das wahrnehmen, was unser Leben reich, schön und lebendig macht? Die Natur bietet dafür im Moment besonders viel Anschauungsmaterial, aber auch darüber hinaus könnte es ja für jede und jeden von uns Hoffnungszeichen und Lichtblicke geben. Diese im eigenen Leben aufzuspüren, ist ein wichtiger Resilienzfaktor, um besser durch eine Krise zu kommen. Womit wir rechnen dürfen, zeigen uns auch z.B. die Evangelien oder Psalmen auf. Der kommende Sonntag steht unter dem Motto Misericordias Domini und das bedeutet: Die Erde ist voll der Güte Gottes. Vielleicht mögen Sie es ja einmal versuchen, dieses Gute und Schöne zu entdecken an Orten oder auf Wegen, wo Sie gar nicht damit rechnen! Und schauen, was Ihnen ins Auge springt und Sie finden will, damit Sie besser durch diese Zeit kommen. Ich würde zu gern wissen, was Sie dabei alles entdecken….
Sabine Stövhase
Caritas-Zentrum Göppingen