Sonntagsgedanken: Ausgeliefert und angewiesen

„Jetzt werden Sie aber wieder Zulauf kriegen“ sagte mir die Kollegin im Lehrerzimmer letzte Woche. Jetzt, wo die Angst vor dem Corona-Virus um sich greife, würden die Leute doch wieder vermehrt in die Gottesdienste strömen. Das sei doch immer so gewesen.

In Zeiten großer Unsicherheit suchten die Menschen einen Halt in der Gemeinschaft und im Glauben an „etwas Größeres“, an Gott. Ja, das stimmt, sagte ich, das ist normal, daran ist nichts auszusetzen, dazu ist die Kirche da. Schließlich hat Jesus gesagt: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch aufrichten und ermutigen! – Ich erinnere mich an die Zeit nach den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme in New York. Da waren die Gottesdienste einige Wochen lang richtig gut besucht. Auch nach anderen erschütternden Großereignissen stiegen die Besucherzahlen an. In solchen Situationen suchen wir Vergewisserung, wollen uns aneinander festhalten, unsere Fragen und Sorgen vor Gott bringen, im gemeinsamen Gebet Kraft schöpfen.

J e t z t aber, da wir es besonders nötig hätten, sollen wir gerade n i c h t zusammenkommen! Gottesdienste werden abgesagt. Eigentlich paradox, wenn empfohlen wird: Zeigt mitmenschlichen Zusammenhalt, indem ihr Euch aus dem Weg geht! Das war noch nie da. Das ist irritierend. Aber es ist notwendig, sagen die Experten. Ich widerspreche ihnen nicht, ich habe großen Respekt vor allen, die sich jetzt im Gesundheitswesen und in öffentlichen Ämtern bis an die Grenzen ihrer Kraft einsetzen. Danke!! – Ja, wir sind ziemlich verunsichert: Einerseits fühlen wir uns recht hilflos ausgeliefert an eine diffuse, nur wenig beherrschbare Gefahr – andererseits sind wir elementar angewiesen auf Rat, Hilfe, Bewahrung. „Man wird demütig“ sagte die Kollegin „man besinnt sich wieder mehr auf das Wesentliche“. Was ist das Wesentliche? Ich sag mal so: Wir sind keine Götter, wir sind begrenzte Menschen. Wir sind angewiesen auf das Nicht-Machbare, auf eine Kraft, die uns trägt und verbindet. Wir brauchen einander. Ich maße mir nicht an, die Corona – Epidemie religiös einzuordnen und sie mit einem bestimmten Plan Gottes zu erklären. Ich steh auch als Pfarrer nicht allwissend darüber – sondern bin mit vielen anderen im Fragen, Hoffen, Beten verbunden. Ich denke an eine gehbehinderte alte Frau, die sonntagmorgens die Balkontür öffnete, um die Kirchenglocken besser zu hören. Beim Vaterunser-Läuten bete sie laut mit, erzählte sie, dann spüre sie, daß sie dazugehört und mitgetragen ist. Das tröste sie. Diese Frau fiel mir ein, als ich las, daß die Kirchenglocken in unseren Gemeinden auf jeden Fall läuten werden, auch wenn Gottesdienste ausfallen. Die Glocken: Zeichen für Zuflucht und Ermutigung, die wir bei Gott und in der Gemeinschaft der Glaubenden, Hoffenden, Betenden finden. Unser Vertrauen ist freilich nicht immer unangefochten. Wir kennen auch die Situation, die unsere Jahreslosung mit dem Stoßgebet eines Vaters ausdrückt, der Hilfe für sein Kind sucht und sich in seiner Not an Jesus wendet: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Mehr können wir manchmal nicht sagen – aber eigentlich ist das schon viel. Es rettet vor dem Nichts.

 

Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen

Permanentlink zu diesem Beitrag: https://filstalexpress.de/filstalexpress/106098/

Schreibe einen Kommentar