Das Pfingstfest liegt hinter uns. Die Ferien sind vorüber.
Der ‚Geist Gottes‘ belebt uns weiter, verleiht uns Freiheit und Stolz. Wir sind freie Menschen, von Gott als Söhne und Töchter angenommen. Konkret kann das so aussehen, wie es Menschen vor 900 Jahren aus unserer Region erlebt haben:
Eine Gruppe von Männern und Frauen aus Boll und Gammelshausen begibt sich etwa um 1150 auf eine Wallfahrt nach Trier. Es sind 27 namentlich genannte Personen. Deren Namensliste findet sich in einem ‚Pilgerbruderschaftsbuch‘, das 1950 in Trier entdeckt wurde. Viele Herkunftsorte werden dort bezeichnet – darunter Esslingen und Tübingen und eben auch Boll sowie Gammelshausen. Hildegunt (eine der 17 Frauen) mag eine einfache leibeigene Bauersfrau gewesen sein. Mit den anderen hat sie sich zusammen vom spirituellen Umfeld ihrer Herrin Berta von Boll anregen lassen: Eine intensive Pilgerbewegung zum Grab des Heiligen Matthias vor den Toren von Trier war in Europa in Gang gekommen. Gebetsbruderschaften wurden gegründet. Sie bestanden aus Laien. Der Klerus, die Priester, die Mönche und Nonnen halfen zwar mit – sie waren aber nicht maßgebend. Im Programm der Gebetsbruderschaften hieß es – für Bertas fürsorgliche Grundhaltung passend – „im Bekenntnis zu Christus, dem Herrn der Apostel, in Werken der Barmherzigkeit und Liebe zu allen Menschen und im Friedenstiften“ wollen die Mitglieder ihr Leben führen.
Die Umstände für die Pilgerreise können wir nur erahnen: Es entstanden für die einfachen Bauersleute hohe Kosten. Umfängliche Vorbereitungen und komplizierte Absprachen wegen Haus und Hof waren notwendig. Das Erbe musste geregelt werden. Die Teilnehmenden konnten nicht wissen, ob sie wieder heimkommen. Wir können den beschwerlichen Weg rekonstruieren: durch das Filstal, an Esslingen, Cannstatt, Vaihingen, Pforzheim und Landau vorbei. Und dann das heilige Trier – mit der berühmten Porta Nigra, dem Römischen Tor. Ein großes Erstaunen und tiefe Ehrfurcht werden die Menschen ergriffen haben. Die ganze Fülle von Gottes Geist hat sie ergriffen. Mit Gebeten, Gesängen und Messen werden sie ihre Tage in Trier verbracht haben.
Unsere Pilgergruppe hatte für kurze Zeit Gelegenheit, den engen Raum ihrer begrenzten dörflichen Welt zu verlassen und ein eindrucksvolles Gemeinschafts- und Glaubenserlebnis auf ihrem Weg quer durch Süd-Deutschland mit vielen Eindrücken zu erlangen. Bei der sehr geringen Mobilität des einfachen Volkes war diese Pilgerschaft etwas ganz Außergewöhnliches. Und vor allem besonders wegen der Laienorientierung – im 12.Jahrhundert schon! Die Pilgerreise war auch deshalb ungewöhnlich und ein sinnenfälliger Kontrapunkt, weil zur selben Zeit die großen Kreuzzüge mit viel Geld, ungeheurer Gewalt, Krieg, Angst, Verkennung und Missbrauch des christlichen Glaubens durch die Ritterschaft, den hohen Klerus und den Adel Europa und den Mittelmeerraum heimsuchten. Dort bedrängende, vernichtende Soldatenheere und hier die kleine betende (aber stolze) Pilgerschar!
Zwei Beobachtungen noch: Die auffallend hohe Zahl der teilnehmenden Frauen drückt ein positives Frauenbild aus. Stolz und frei sind diese Frauen – wenigstens für kurze Zeit. Und das im 12.Jahrhundert! Außerdem: Ein fremd klingender Name („Geribeli“) ist in der Liste – vielleicht der eines Steinmetzes, der beim Bau der Stiftskirche in Boll mitgearbeitet hat?
Die Geschichte ist für mich ein Beispiel für die große Freiheit eines Christenmenschen, von der später Martin Luther spricht.
Menschen (hier vor allem Frauen!) werden sich ihrer Freiheit und ihres Stolzes bewusst. Sie erfahren ihren Mut durch den heiligen Geist, durch ihren Glauben. Ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind (noch) schlimm: Sie sind unterdrückt und arm. Aber sie glauben: Gott macht mich stark. Er verleiht mir eine innere Kraft, seinen Geist, mit dem ich neue Schritte tun kann.
Das wünscht Ihnen
Christian Buchholz