„Derf´s a bissele mehr sei?“ fragt die tüchtige Metzgereiverkäuferin beim Abwiegen der Kalbsleberwurst. Statt der gewünschten 200 zeigt die Waage fast 300 Gramm an. „Ja, klar“, antworte ich großzügig, I will ja edd b´häb erscheina. Daheim sagt die Ehefrau „Heut hat sie´s wieder guad mid oos g´moint“. (Mid wem? Mid oos oder mid´m G´schäffd?). –
„Derf´s a bissele mehr sei?“, die Verkäuferin nennt unbewußt ein Prinzip unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft. Die ist auf ein fortwährendes „Immer mehr von allem“ angelegt. Sind wir da nicht alle irgendwie mit hinein verwickelt? Immer mehr Konsum. Immer mehr Mobilität. Immer mehr Landverbrauch. Immer mehr Skipisten. Immer mehr Fernreisen. Immer mehr Leistung in immer kürzerer Zeit. Immer mehr Quotensteigerung. Immer mehr Erwartungen, die zu erfüllen sind. Immer mehr Grobziele, Unterziele, Feinziele usf. Dabei wissen alle, daß das „Immer mehr von allem“ ungesund ist. Am Ende steht die Erschöpfung von Mensch und Erde. – Zu Beginn der Fastenzeit stelle ich dem fatalen „Immer mehr“ die entlastende Paradoxie „Weniger ist mehr“ gegenüber. Das Fasten hat in unserer christlichen Tradition den Sinn, durch Verzicht auf manches nicht Notwendige ein Mehr an Lebenstiefe, an Gottesbewußtsein, an Ruhe und innerer Klarheit zu gewinnen. Freilich bin ich mir bewußt: für die Wirtsleute, die Geschäftsleute, die Kulturschaffenden, die von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit Betroffenen klingt in der gegenwärtigen Corona-Krise der allgemeine Aufruf zum Fasten wie Hohn. Sie sind von der Krise viel einschneidender betroffen als wir anderen, wir Gehaltsempfänger, Pensionsempfänger, Vermieter. Wie sähe hier ein angemessenes Fasten aus? Ich werde heuer nicht wie sonst in der Fastenzeit auf mein Feierabendbier verzichten. Meine Lieblingsbrauerei kämpft ums Überleben. In der Bibel geht es beim Fasten um einen gerechten Ausgleich zwischen den Habenden und den Benachteiligten. Beim Fasten, sagt Jesaja, schaut nicht auf eure eigene religiöse Selbstoptimierung, kümmert euch stattdessen um die Hungernden und an den Rand Gedrängten! Das war der Bibeltext vom letzten Sonntag (Jesaja 58). Zur Veranschaulichung stellte ich ein leicht verbeultes Henkelkännle auf die Kanzel. In diesem brachte meine Schwester Ingeborg vor 70 Jahren in der Nachkriegszeit warmes Essen von der Schulspeisung mit heim. Amerikanische Christen haben damals Schulspeisungen in ganz Deutschland organisiert. Das Henkelkännle – ein Symbol für tätige Nächstenliebe über Grenzen hinweg. Heute sehe ich es auch als ein Symbol für die Vesperkirchen im Land. Bedürftige konnten Essen abholen. Das Henkelkännle kann auch ein Symbol sein für „Click and Collect“ in Coronazeiten. Man unterstützt Wirts- und Geschäftsleute, wenn man bei ihnen bestellt und abholt. Fasten in Corona-Zeiten? Da möge jeder seine eigene Weise finden. Wichtig ist nur, daß sich vertieftes Gottesbewußtsein mit dem Interesse an sozialem Ausgleich und der Freude am Teilen verbindet. Von dieser Freude„ka´s ruhig emmer no a bissele mehr sei!“. Dann, sagt der Bibeltext, „wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und die Herrlichkeit des Herrn wird sichtbar werden“. Wunderbar!
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen