Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat im Landtag davor gewarnt, Europa könne an der Flüchtlingskrise zerbrechen. Statt nationaler Obergrenzen brauche es europäische Kontingente. Ansonsten drohe ein epochaler Rückfall in nationales Klein-Klein, was gerade für Baden-Württemberg dramatische Folgen hätte. Gleichzeitig betonte Kretschmann, dass Baden-Württemberg entschlossen und human handle und das Asylpaket konsequent umsetze.
„Wir erleben gerade eine Zeitenwende, eine globale Krise“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Landtag. 60 Millionen Menschen seien auf der Flucht, Staaten im arabischen Raum implodierten, der IS treibe sein Unwesen. Jeden Tag kämen Tausende Flüchtlinge nach Deutschland. Allein im Oktober seien mehr Menschen nach Baden-Württemberg gekommen wie im gesamten Jahr zuvor, machte Kretschmann die Dimension der Herausforderung deutlich.
Bei der Handhabung der Krise warnte Kretschmann vor unausgegorenen Vorschlägen. „Es ist unverantwortlich, wenn ständig neue Steine ins Wasser geschmissen werden, die hohe Wellen schlagen, aber nichts zur Lösung des Problems beitragen. Das ist Gift für die öffentliche Stimmung.“
Europäische Kontingente anstatt nationale Obergrenzen
Als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land übernehme Deutschland eine ganz besondere Verantwortung, wenngleich eine wirkliche Lösung nur auf europäischer Ebene geschehen könne. „Die zentrale Größe, auf die es bei der Lösung der Krise ankommt, ist Europa“; stellte Kretschmann klar.
Eine einseitig von Deutschland festgelegte Obergrenze für Flüchtlinge halte er für unrealistisch und falsch, sagte der Ministerpräsident. Stattdessen müsse man sich mit den Nachbarstaaten auf gemeinsame europäische Kontingente verständigen. Das sei der sinnvollere Weg.
Gleichzeitig müsse die Situation in den Flüchtlingslagern in den Ländern rund um Syrien verbessert werden, damit die Menschen gar nicht erst hierher kommen müssten. „Diese Staaten zu unterstützen, das ist ein Gebot der Stunde und der praktischen Vernunft“, sagte Kretschmann. Die europäischen Außengrenzen müssten gesichert, die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas fair geregelt und die Hotspots an den Außengrenzen zur Verteilung der Flüchtlinge ihre Arbeit aufnehmen.
Europa darf nicht an der Flüchtlingskrise scheitern
Die Flüchtlingskrise dürfe nicht zu einer Krise der Europäischen Union werden. „Das europäische Projekt steht gerade auf dem Spiel“, sagte er. „Europa ist in der Flüchtlingsfrage völlig zerstritten. Von Solidarität keine Spur, stattdessen Überforderung auf offener Bühne.“ Das sei gefährlich und mache ihm große Sorgen, so Kretschmann, denn die Herausforderungen könnten nur auf europäischer Ebene gelöst werden.
„Europa steht vor einer seiner größten Bewährungsproben – einer Bewährungsprobe für seine Handlungsfähigkeit und seine Werte“, erklärte der Ministerpräsident. Sollte Europa daran scheitern, drohe ein epochaler Rückfall in nationales Klein-Klein. Gerade für ein Land wie Baden-Württemberg, dessen Wohlstand ganz entscheidend vom Export abhänge, wären die Folgen dramatisch.
„Was wir tun können, das tun wir“
Das Land und die Kommunen in Baden-Württemberg würden unterdessen anpacken. „Was wir hier im Land tun können, das tun wir“, sagte Kretschmann. So habe Baden-Württemberg als erstes Bundesland alle Akteure bei einem Flüchtlingsgipfel an einen Tisch geholt und in einer Verantwortungsgemeinschaft eingebunden.
Die Erstaufnahmekapazitäten in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen seien inzwischen vervierzigfacht worden. Das Land unterstütze die Kommunen so wie sonst nirgends, indem es die Pauschalen für die Flüchtlingsunterbringung erhöht habe und die Kosten spitz abrechne. Auch würden keine Flüchtlinge in die Kommunen verlegt, deren Status nicht geklärt sei.
In den Landeserstaufnahmestellen und Regierungspräsidien habe das Land Hunderte neue Stellen eingerichtet, neue Sozialarbeiter eingestellt, die Polizei und die Verwaltungsgerichte verstärkt. Zudem würden neue Abteilungen im Innenministerium und im Regierungspräsidium Karlsruhe eingerichtet und zusätzliche Stellen im Integrationsministerium geschaffen.
Dank an die freiwilligen Helfer
Das Engagement der ehrenamtlichen Helfer werde mit Förderprogrammen zur Unterstützung lokaler Bündnisse und ehrenamtlicher Helferkreise gefördert. Zudem sei ein Ombudsmann für Helfer an jeder Erstaufnahmeeinrichtung eingerichtet worden. „Auch weil wir wissen, dass wir ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer die Situation nicht bewältigen könnten“, betonte Kretschmann, und dankte den Freiwilligen für ihre Arbeit.
Asylkompromiss wird konsequent umgesetzt
Gleichzeitig setze die Landesregierung den Asylkompromiss konsequent um, unterstrich der Ministerpräsident. Die Geldleistungen würden durch eine elektronische Leistungskarte ersetzt. Durch die Einführung der Gesundheitskarte werde das bürokratische Verfahren entlastet, wobei der Leistungskatalog auf dem bisherigen Niveau bestehen bleibe. Baden-Württemberg habe als erstes Bundesland ein systematisches Rückkehrmanagement eingeführt und setze dieses auch um – „ohne humanitäre Standards zu verletzten“, betonte Kretschmann.
Registrierzentrum in Heidelberg funktioniert
Mit dem Registrierzentrum in Heidelberg habe Baden-Württemberg bundesweit Maßstäbe gesetzt, so Kretschmann. Nirgendwo sonst würde das Verfahren mit Aufnahme, Registrierung, erkennungsdienstlicher Behandlung, gesundheitlicher Untersuchung und Asylantrag so gebündelt und schnell ablaufen. „Wir schaffen alle wichtigen Verfahrensschritte innerhalb von zwei bis vier Tagen.“
Kretschmann verlangte allerdings, dass im Gegenzug nun auch der Bund liefern müsse. Noch immer dauerten die Asylverfahren viel zu lange.
Landesregierung mit klarem Kompass und klarer Haltung
„Wir befinden uns in einer historischen Herausforderung“, erklärte Kretschmann, „zur Lösung dieser Krise gibt es keinen Masterplan.“ Den habe niemand. Die Landesregierung habe einen klaren Kompass und eine klare Haltung, sie handle entschlossen und human.
„Wir geben dort, wo wir Verantwortung tragen, unser Bestes, um die historische Herausforderung zu meistern.“ Wenn das auch alle anderen Beteiligten tun würden, wenn alle anpackten anstatt zu jammern, wenn Europa endlich zusammenfinden und gemeinsam handeln würde, dann könne und werde man es schaffen.
PM