Fünf Jahre „Krefelder Studie“: Insektenschutz in Baden-Württemberg ist ins Stocken geraten – NABU: Gestartetes Umdenken in Politik und Gesellschaft braucht neuen Schwung

Heute vor fünf Jahren, am 18.10.2017, hat der Entomologische Verein Krefeld mit seiner bahnbrechenden Studie für Aufsehen gesorgt: In nur 30 Jahren ist die Biomasse der Fluginsekten in Schutzgebieten um rund 75 Prozent zurückgegangen, so das weltweit diskutierte Ergebnis. Das Insektensterben war damit plötzlich im Fokus von Medien und Politik. Die Studie hat damit eine längst überfällige Diskussion über Schwund und Schutz von Insekten ausgelöst. „Rettet die Bienen“ hieß nicht zufällig das Volksbegehren ein Jahr später in Bayern und ab Mai 2019 in Baden-Württemberg. Zahlreiche weitere Studien aus ganz Europa, aber auch aus Baden-Württemberg, haben den negativen Trend bei den Insekten leider bestätigt.

Insektensterben auch im Südwesten

Das Insektensterben ist auch im Südwesten ein trauriges Faktum. Betroffen sind Schmetterlinge, Schwebfliegen, Wildbienen und viele andere Insektengruppen. Problematisch ist das auch deshalb, weil Insekten eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel und Fledermäuse sind, weil sie Pflanzen bestäuben und damit die Grundlage für funktionierende Ökosysteme darstellen. „Sterben die Insekten, stirbt früher oder später auch der Mensch“, gibt der baden-württembergische NABU-Landesvorsitzende Johannes Enssle zu bedenken. Aktuell schlägt die Wissenschaft Alarm, weil hunderte Schwebfliegenarten in Europa vom Aussterben bedroht sind. Sie benötigen eine nachhaltigere, pestizidärmere Landwirtschaft mit vielfältigen Strukturen wie Blühstreifen und Hecken, mehr Feuchtgebiete und totholzreiche Wälder, so die Zusammenfassung des Berichts der  Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) für die EU-Kommission.

Einige dieser Punkte enthält zwar auch das Biodiversitätsstärkungsgesetz in Baden-Württemberg, das vor rund zwei Jahren verabschiedet wurde, um das Volksbegehren zu befrieden. Doch weder bei den Lebensräumen, noch bei den Pestiziden ist bisher genug passiert. „Der Ausbau der Ökolandwirtschaft und die Schaffung von Refugialflächen als Rückzugsräume für Insekten und Vögel sind ins Stocken geraten. Der Erhalt von Streuobstwiesen und das Schottergartenverbot stehen zwar auf dem Papier, doch in der landesweiten Praxis kommen wir nur im Schneckentempo voran. Bei der Pestizidreduktion sehen wir noch zu wenig Fortschritte. Und über allem hängt die Klimakrise wie eine schwarze Wolke“, sagt NABU-Landeschef Johannes Enssle. Den Kopf in den Sand zu stecken sei aber keine Lösung. „Wir brauchen eine Landesregierung, die die Arten- und Klimakrise energisch anpackt“, betont er.

Dringend notwendige Verwaltungsvorschrift steckt fest

NABU-Landwirtschaftsreferent Jochen Goedecke ergänzt: „In der Landwirtschaft, beim Flächenverbrauchs und beim Klimaschutz gilt es zuallererst anzusetzen, um das Artensterben zu stoppen. Damit Landwirtschaftsbetriebe aber zehn Prozent ihrer Fläche im Ackerbau, Grünland und in Sonderkulturen für die gesetzlich verankerten Refugialflächen reservieren können, braucht es noch die entsprechende Verwaltungsvorschrift aus dem Haus von Landwirtschaftsminister Peter Hauk. Darauf warten wir nun schon seit eineinhalb Jahren. Damit macht sich die Landesregierung in Sachen Insektenschutz unglaubwürdig. Zumal sie immer wieder Ausnahmegenehmigungen für Pestizide zum Beispiel in Wasserschutzgebieten erlässt.“ Zugleich fehle es an einer passenden Kampagne. „The Länd kann auch Artenschutz – aber nur, wenn die Landwirtinnen und Landwirte von den Maßnahmen überzeugt sind und sich Naturschutzleistungen auch finanziell lohnen. Dafür braucht es Finanzmittel, die im Haushaltsplan von Grün-Schwarz für 2023/2024 bisher fehlen.“

Positiv bewertet der NABU, dass die Krefelder Studie viele aufgerüttelt hat. Zahlreiche Initiativen von Landwirtschaft und Kommunen versuchen ihren Beitrag zum Insektenschutz zu leisten. Kommunen legen insektenfreundliche Grünflächen an, Unternehmen engagieren sich mit mehr Blütenangebot auf dem Werksgelände und auch soziale Einrichtungen wie die Evangelische Heimstiftung setzen Maßnahmen im Umfeld ihrer Gebäude um. Auch viele Bürgerinnen und Bürger greifen Ideen von Naturschutzverbänden wie dem NABU auf, um ihren Balkon und Garten insektenfreundlicher zu gestalten. Die Politik hat die Lichtverschmutzung etwas reduziert und Gewässerrandstreifen geschützt. Auf europäischer Ebene könnten das EU-Renaturierungsgesetz und die EU-Verordnung zum nachhaltigen Einsatz zu Pflanzenschutzmitteln eine Trendwende beim Insektensterben herbeiführen, sofern sich die ambitionierten Ziele wirklich durchsetzen lassen und nicht wieder – wie bei der Europäischen Agrarpolitik – auf den letzten Metern verwässert werden.

„Baden-Württemberg kann mit seinem Biodiversitätsstärkungsgesetz vorangehen und der EU zeigen, wie es geht. Dafür muss die von Winfried Kretschmann angeführte Regierungskoalition aber auch beweisen, dass sie nicht nur gut darin ist, Ziele in Gesetze zu schreiben, sondern dass sie diese Ziele auch erreichen kann“, resümiert NABU-Chef Enssle den aktuellen Stand.

Hintergrund:

Nach der Veröffentlichung im Oktober 2017 ist das Ergebnis der „Krefelder Studie“ durch viele weitere Untersuchungen bestätigt worden. Als Haupttreiber des Insektenschwunds gelten insbesondere die intensive Landwirtschaft, der Klimawandel, die Verstädterung und Flächenversiegelung sowie der hohe Einsatz von Pestiziden. In der Folge haben auf Bundesebene SPD und CDU den Insektenschutz im Koalitionsvertrag aufgenommen (2018) und das „Aktionsprogramm Insektenschutz“ (2019) veröffentlicht. In Baden-Württemberg trat das Biodiversitätsstärkungsgesetz (2020) in Kraft. 2021 hat der Bundestag schließlich das Insektenschutzpaket verabschiedet.

In Folge der „Krefelder Studie“ rief der NABU den Insektensommer ins Leben. Darüber hinaus startete das NABU-Forschungsprojekt DINA, bei dem die Insektenvielfalt in Naturschutzgebieten dokumentiert wird. Von den bundesweit 21 Monitoring-Gebieten liegen vier im Südwesten.

Weitere Infos des NABU BW zum Insektensterben

 

PM NABU (Naturschutzbund Deutschland), Landesverband Baden-Württemberg e. V.

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