Es gibt bislang keine konkreten Pläne und Programme zur Wiederbelebung der verödeten Innenstädte. Zumeist geht es lediglich um die Stärkung des Einzelhandels. Ebenso wenig ist klar, welche (gesetzgeberischen) Maßnahmen nötig wären und wieviel es kosten würde, Innenstädte von Einkaufsmeilen zu Erlebnisorten mit Gastronomie, Kultur, Handwerk, Einzelhandel und Wohnen zu entwickeln. Die in städtebaulichen Programmen dafür vorgesehenen Mittel reichen jedenfalls nicht aus.
Die Verbraucherkommission fordert die Landesregierung daher auf, zügig mit der Umsetzung der Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag zu beginnen und die von ihr dafür aufzubringenden finanziellen Mittel bereitzustellen.
Die Verödung der Innenstädte ist nicht erst seit Corona ein Problem. „Wie kann die Verödung unserer Innenstädte verhindert werden?“, fragte schon im Jahr 2000 die Deutsche Gesellschaft für Geographie (DVAG)1. Die Corona–Pandemie hat das Problem jedoch beschleunigt und sichtbarer gemacht.
Das Thema ist auch zentral für Verbraucherinnen und Verbraucher: Zum einen kann ihr Verhalten zu einer kompletten Verödung beitragen, zum anderen sind sie aber teilweise bereits heute in einer Geiselhaft der entstandenen Verhältnisse, die ihnen die Option der Nutzung einer funktionierenden Innenstadt mangels Angebots nimmt. Letzteres ist ein Problem z. B. für ältere, zentrumnah wohnende Verbraucherinnen und
Verbraucher ohne Auto. Doch auch ein völlig geändertes Angebot (etwa die Zunahme von Wettbüros, 1–Euro–Shops) ist geeignet, das Konsumverhalten zu impaktieren.
Zur Zukunft der Innenstädte nach Corona gibt es zwar Vorschläge und Ideen. Einigkeit herrscht, dass die Zeit der reinen Einkaufsmeilen vorbei ist. Die Innenstädte sollen durch eine Mischung von Einzelhandel, Gastronomie, Handwerk, Dienstleistungen, Kunst und auch Wohnen wieder attraktiv gemacht werden. Im Koalitionsvertrag von Bündnis90/Die Grünen und CDU heißt es dazu unter anderem: „Zur Zukunft des Handels werden wir zeitnah einen Rat mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaftsberatung und Unternehmen einberufen. Die Entwicklung unserer Innenstädte zu attraktiven Veranstaltungsorten und Orten der Freizeitgestaltung wollen wir durch die Förderung geeigneter lokaler Formate unterstützen.“2 Völlig unklar ist allerdings unter anderem, wie sich solche Pläne angesichts von Mieten über 200 Euro pro Monat und Quadratmeter in Großstädten und relativ gesehen gleich hohen Mieten in mittelgroßen Städten verwirklichen lassen.
1 https://idw–online.de/de/news25661, abgerufen am22.9.2021
2 https://www.baden–wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/210506_Koalitionsvertrag_2021–2026.pdf, abgerufen am24.10.2021
Die Verbraucherkommission fordert die Landesregierung daher auf,
ein konkretes Konzept für die Wiederbelebung der Innenstädte vorzulegen. Dazu gehört unter anderem: Ist geplant, die Ausweisung von Einkaufszentren auf der grünen Wiese, die vielen Kleinstädten zu schaffen macht, zu stoppen? Ist geplant, bestehende Einkaufszentren auf der grünen Wiese zurück zu verlagern? Wie soll das Problem der Mieten gelöst werden, z. B. durch dauerhafte Mietzuschüsse für Kunst, Kultur, Handwerksbetriebe und Wohnungen in ehemaligen Büro– und Einkaufsflächen? Der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung setzt sich etwa für ein Vorkaufsrecht der Städte für Immobilien in den Zentren zum Verkehrswert ein.3
im Bereich der Konkurrenz zwischen stationärem und Online–Handel unter anderem die Frage zu beantworten, ob man eine Paketsteuer will und wie man die so ausgestalten kann, dass nicht jeder kleine Einzelhändler davon betroffen ist.
darzulegen, wie groß der Finanzbedarf ist, um die Absichtserklärungen aus dem Koalitionsvertrag und das Konzept zu verwirklichen, und wie dieser gedeckt werden soll.
Als Gründe für die Verödung der Innenstädte führte die DVAG schon 2000 an: „In der Stadt– und Regionalplanung konkurrieren großflächiger Einzelhandel und Freizeitzentren auf der grünen Wiese sowie der elektronische Handel über das Internet immer stärker mit den Stadtzentren“.
Die Zentren in Groß– und mittelgroßen Städten waren und sind auch deshalb so anfällig, weil viele zu reinen Einkaufsmeilen verkommen sind. Es gibt keine gemischte Nutzung auch durch Handwerk, Wohnen, Gastronomie, Kunst und Kultur (abgesehen von Kinopalästen), die die Stadtzentren jenseits des Einkaufens attraktiv machen würden.
In kleineren Städten führen Filialen von Supermarktketten und Discountern auf der grünen Wiese dazu, dass in den Zentren zwar noch Menschen wohnen, es aber kein öffentliches Leben mehr gibt. „Metzger, Bäcker und Restaurants sind auf Laufkunden angewiesen, die ihre Einkäufe im Zentrum erledigen“, stellt Lukas Bühlmann, Direktor der schweizerischen Vereinigung für Landesplanung fest. Würden die Kunden aber am Siedlungsrand einkaufen, gingen viele Läden ein, und das Leben im Zentrum werde
unattraktiv.
Keine Rolle spielten – jedenfalls bis zur Corona–Krise – die besonders in Großstädten zum Teil exorbitanten Mieten von bis zu 300 Euro in Frankfurt oder 270 Euro in Stuttgart pro Monat und Quadratmeter. Sie dürften aber die Realisierung neuer Nutzungskonzepte erschweren. Das gilt insbesondere für die Nutzung als Wohnraum, wie sie das Bündnis Soziales Wohnen für leerstehende Büroflächen fordert, die aber auch für
(freistehende) Einkaufsflächen in den Innenstädten nötig sein dürfte.
Die DVAG wollte im Jahr 2000 die Innenstädte als Einkaufsorte wieder attraktiver machen und schlug vor, unterschiedliche Ladenöffnungszeiten für den Einzelhandel in den Städten und großflächige Einkaufszentren außerhalb der Städte festzulegen. Die Attraktivität der Innenstädte könne von einer solchen Regelung erheblich profitieren. Längere Geschäftszeiten, beschränkt auf die Innenstadt, seien zudem ein sinnvoller Ausgleich für Wettbewerbsvorteile, wie niedrige Grundstückspreise und große Parkflächen auf der grünen Wiese.
Doch die Zeit der reinen Einkaufsmeilen dürfte endgültig vorbei sein. „Wir müssen Konzepte zur Wiederbelebung der Innenstädte entwickeln”, sagte der vormalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im August 2020.12 Er machte auch klar, dass die Kommunen allein den Strukturwandel nicht bewältigen können und auf finanzielle Hilfen angewiesen sind. Der Bund müsse bereit sein, „notwendige Maßnahmen gemeinsam mit Kommunen und Ländern noch stärker zu unterstützen”. Allerdings hat auch
Altmaier vor allem die Shopping–Funktion im Blick, wenn er sagt: „Wir müssen den Geschäftsinhabern in den Innenstädten dabei helfen, ihre Kundenbeziehungen so zu digitalisieren, dass es auch den Modeläden und Schuhgeschäften zugutekommt”.
Auch dem Handelsverband Textil geht es einfach darum, das Einkaufen in den Innenstädten wieder attraktiver zu machen. Wichtig seien etwa eine gute Erreichbarkeit der der Innenstädte auch mit dem Auto, Investitionen in die Aufenthaltsqualität, etwa in Optik und Sicherheit, mehr Möglichkeiten für verkaufsoffene Sonntage und ein gutes City–Marketing. Außerdem müsse der Neubau von Verkaufsstätten auf der grünen Wiese eingedämmt werden.
Lediglich um den Einzelhandel geht es auch den Abgeordneten der CDU, die Ende 2020 eine Paketsteuer für den Online–Handel forderten.14 Sie wollen zwar einen „Innenstadtfonds“ aufgelegen und einen „Pakt für lebendige Innenstädte“ schließen. Doch die Einnahmen aus der neuen Gebühr sollen lediglich den Einzelhandel entlasten: „Die Mittel werden also in vollem Umfang zur Stärkung eines vielfältigen Einzelhandels in lebendigen Innenstädten eingesetzt“, so der stellvertretende Unions–Fraktionsvorsitzende Andreas Jung, der für Finanzpolitik zuständig ist, und Christian Haase, der kommunalpolitische Sprecher der Fraktion. Nebenbei sei angemerkt, dass die Steuer nicht nur von Amazon, Otto und Zalando stammt, sondern auch den kleinen Einzelhändlern, die sich inzwischen einen Online–Absatzkanal aufgebaut haben.
Weitergehende Vorstellungen bleiben meist recht vage. Es müsse eine Begeisterung der Bewohnerinnen und Bewohner für ihre Stadt erzeugt werden. Wichtig sei, dass „im Städtle was los ist“. Dann gehe man auch gerne in die Stadt. Die City müsse zur Bühne der Selbstdarstellung werden, zur Kulisse für Fotos auf Instagram. Begegnung, Feier, das Schwätzchen nach dem Markt, dafür sehe er gute Ansätze, die man nach Corona stärken wird, sagt etwa der Nürtinger Städteplaner Oliver Frey. Allerdings müssten die Kommunen auch aufhören, ständig neue Gewerbegebiete auf der grünen Wiese zu genehmigen und anfangen, die Planung der Innenstädte ganzheitlich zu sehen.
In Berlin will der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel aus der Friedrichstrasse, einst eine Nobel–Einkaufsmeile, eine autofreie Zone machen, damit Platz zum Flanieren, für Bäume und für Straßencafés entsteht.
In Bottrop sagt Dorothee Lauter von der Wirtschaftsförderung der Stadt „Wir wollen, dass die Leute wieder gerne hier in die Innenstadt kommen, dass sie hier tolle Sachen finden, dass sie hier ihre Mitbürger und ihre Kollegen treffen. Dass wir auch anders als vielleicht mit den Filialisten ein interessantes, regionales, spannendes Angebot schaffen“.
Der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller, sagt, Ziel müsse sein, sich auf neue Innenstädte einzurichten, die viel stärker zwischen Gastronomie, Handel und Veranstaltungen hin und her variieren. Nötig seien dafür Kleinkunstflächen, Auftrittsmöglichkeiten, vielleicht auch Räumlichkeiten, wo sich Vereine, Verbände und andere treffen können – wo es von Modeschauen bis hin zu Messen alles geben kann.
Von zentraler Bedeutung, ob die Wiederbelebung der Innenstädte gelingen kann, ist die Höhe und die Begrenzung der Mietpreise. Es brauche künftig eine Mischung in den Städten mit mehr Kultur, sozialen Einrichtungen, Freiräumen, Handwerk, aber auch Wohnen, Produzieren und mehr Grün mitten in der Stadt, sagt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. Damit das möglich wird, müsste das Mietniveau entsprechend gesenkt werden.
„Meine Vision der deutschen Innenstadt ist die einer italienischen Piazza“, sagt Michael Otto vom Hamburger Versandunternehmen Otto. Er sieht die Innenstädte künftig als Orte der Zusammenkunft, in der Menschen allen Alters zusammenkommen, sich unterhalten, essen, trinken, spielen. Dafür müssten mehr Wohnmöglichkeiten in den zentralen Stadtlagen geschaffen, aber auch die öffentlichen Verkehrsmittel ausgebaut werden. Zudem sei eine bauliche Aufwertung der Innenstädte nötig. „Ich denke an einen
neuen attraktiven Mix aus kleinen Manufakturen, Handwerksunternehmen, eine generationsübergreifende Mischung aus Leben und Arbeiten, mehr Unterhaltung und Kultur, mehr Restaurants, Cafés und Bars“, sagt Otto. Wie das erreicht werden könnte, weiß Otto auch: Um eine nötige Vielfalt der Einzelhandelslandschaft zu gewährleisten, sei eine Differenzierung der Mieten notwendig. Gerade kleine Fachhändler könnten nicht
die hohen Mieten in Innenstadtlagen zahlen, die eine große Kette bewerkstelligen könne.
Die Durchsetzung seiner Idee wäre ebenso wie die Senkung des Mietniveaus derzeit nur auf freiwilliger Basis mit Zustimmung der privaten Immobilieneigentümer möglich oder durch gesetzliche Maßnahmen. Beides ist nicht absehbar. Daher versuchen sich die Kommunen, die Länder und der Bund mit kleineren bis größeren Programmen und Maßnahmen an der Wiederbelebung der Innenstädte. So hat der Pforzheimer Oberbürgermeister Peter Boch im Februar 2021 einen Ideenkatalog für die Wiedereröffnung des Einzelhandels nach dem Lockdown vorgestellt. Mit den Maßnahmen sollen möglichst gute Rahmenbedingungen geschaffen werden, so der Oberbürgermeister. Boch schlägt beispielsweise 20–Euro–Gutscheine für alle vor, die nachweisen können, innerhalb einer Woche in Pforzheimer Läden oder Gaststätten mindestens 200 Euro ausgegeben zu haben. Zwei Stunden kostenloses Parken, zusätzlicher Blumenschmuck in der City, der fortgesetzte Verzicht von Gebühren für Außengastronomie oder Spielaktionen sind weitere Ideen. Für die Umsetzung der Ideen will die Stadt bis zu einer Million Euro ausgeben. Der Stuttgarter Stadtbezirk Feuerbach startete wie viele andere Gemeinden ein Programm zur Rückgewinnung von Geschäftsräumen und zur Revitalisierung von Ladenflächen. 50. 000 Euro standen als Finanzmittel zunächst zur Verfügung. Dem Einzelhandel würde möglicherweise auch eine Änderung des Widerrufsrechts oder ein Bekenntnis zu niedrigschwelliger Schlichtung nach dem VSBG helfen.
Derzeit können Online–Kunden den Kauf ohne Angaben von Gründen widerrufen, weil sie sich kein Bild von der Beschaffenheit der Ware machen konnten. Doch auch bei stationär erworbenen Produkten gibt es Gründe, die den Kauf später zu Hause als Fehlkauf erscheinen lassen. Für Rückgabe oder Umtausch sind Kundinnen und Kunden in solchen Fällen auf die Kulanz der Verkäufer angewiesen.
Ebenfalls um den Einzelhandel geht es beim Programm „Handel 2030″, das das baden–württembergische Wirtschaftsministerium mit rund 1,6 Mio. Euro fördert. Sogenannte Innenstadtberater sollen in zehn Regionen Baden–Württembergs den Niedergang durch Corona und vom Online–Handel gebeutelter Citys aufhalten. Die Beraterinnen und Berater sollen den Einzelhandel, Handels– und Gewerbevereine, Cityinitiativen und Quartiersgemeinschaften zusammenbringen, um Projekte zur Stärkung des innerstädtischen Einzelhandels zu erarbeiten.
Ähnliche Projekte gibt es auch in anderen Bundesländern. In Mecklenburg–Vorpommern beispielsweise hat die Landesregierung zehn Millionen Euro für das Sofortprogramm „Re–Start – Lebendige Innenstadt MV“ bereitgestellt. In seinem Focus steht zwar nicht nur, aber vor allem der Einzelhandel. Gefördert werden Projekte, zur Entwicklung, Umsetzung und Begleitung von innerstädtischen Veranstaltungs– und Belebungsmaßnahmen, insbesondere mit dem Fokus Einzelhandel, zur Aufwertung der Innenstadt als attraktiver, multifunktionaler Erlebnisraum, zur Revitalisierung von Einzelhandel, Gastronomie und Tourismus in den Innenstädten und zur Digitalisierung lokaler Wertschöpfungsketten und Stabilisierung des Einzelhandels.
Schließlich gibt es das Bund–Länder–Programm „Lebendige Zentren“. Mit ihm „sollen Stadt– und Ortsteilzentren attraktiver und zu identitätsstiftenden Standorten für Wohnen, Arbeiten, Wirtschaft und Kultur weiterentwickelt werden“.25 Gut 320 Mio. Euro stellte der Bund 2020 dafür zur Verfügung.26 Laut baden–württembergischem Wirtschaftsministerium stehen auch die beiden anderen Bund–Länder–Programme „Sozialer Zusammenhalt“ und „Wachstum und Erneuerung“ für „die Innenstadtentwicklung zur Verfügung – und werden hierfür intensiv genutzt“.27 Allerdings verfolgt das Programm „Sozialer Zusammenhalt“, für das die Bundesregierung 2020 gut 182 Mio. Euro bereitgestellt hat, eher „die Ziele, die Wohn– und Lebensqualität sowie die Nutzungsvielfalt in den Quartieren zu erhöhen, die Integration aller Bevölkerungsgruppen zu unterstützen und den Zusammenhalt in der Nachbarschaft zu stärken“.28 Das Programm „Wachstum und Erneuerung“ (2020 knapp 280 Mio. Euro) wird dagegen „schwerpunktmäßig eingesetzt für die Behebung städtebaulicher Missstände in Innenstädten, in
gründerzeitlich oder anderen historisch geprägten Gebieten und in Wohnsiedlungen sowie für die Revitalisierung ehemals industriell, gewerblich oder militärisch genutzter Brachflächen“.
Die VK–Mitglieder stimmten der Stellungnahme bis auf 4 Enthaltungen zu.
PM Geschäftsstelle Verbraucherkommission Baden-Württemberg, c/o Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg