Beim fünften Bürgerforum Corona haben sich die zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger am Donnerstagnachmittag (15. April 2021) mit den möglichen sozialen Langzeitfolgen der Pandemie auseinandergesetzt, zu denen es als Folge der anhaltenden Kontaktbeschränkungen kommen könnte. Das Thema hatten die Teilnehmenden des Bürgerforums Corona wie bei den vorherigen Sitzungen auch selbst gewählt. „Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, den wir umfassend aufarbeiten müssen“, so Staatsrätin Gisela Erler: „Jeder einzelne Vorschlag und Hinweis, den wir bekommen, ist hilfreich für alle Betroffenen.“
Die Zufallsbürgerinnen und Zufallsbürger diskutierten in Kleingruppen unter anderem darüber, wie Vereinsamungstendenzen kurzfristig sowie langfristig aufgefangen werden können. Zuvor berichteten die Teilnehmenden von ihren eigenen Erfahrungen im Umgang mit den Kontaktbeschränkungen. Manche Bürgerinnen und Bürger empfanden insbesondere die erste Phase der Pandemie nicht nur als belastend, da sie zur Ruhe kommen und beispielsweise mehr Zeit mit der Familie verbringen konnten. Der eingeschränkte Kontakt zu Freunden, Bekannten und der Wegfall vieler kultureller Veranstaltungen und Hobbys über längere Zeit wurde von vielen als Belastung beschrieben. Die Mehrheit der Zufallsbürgerinnen und Zufallsbürger wünscht sich, dass soziales und kulturelles Leben und Aktivitäten im Freien ein Stück weit wieder möglich werden.
Das Vereinsleben müsse reaktiviert und beispielsweise in kleinen Gruppen unter Auflagen wieder erlaubt werden. Das sei insbesondere für Kinder eine wichtige Maßnahme, die soziale Folgen der Pandemie abmildern könne. Das Ferien- und Freizeitprogramm solle unter Hygienemaßnahmen wieder stattfinden. Ein weiterer Vorschlag war die Förderung von Nachbarschaftshilfe – hier müsse man die Eigeninitiative stärken. Das Bürgerforum sprach sich ebenfalls dafür aus, Seniorinnen und Senioren soziale Kontakte wie gemeinsame Nachmittage wieder zu ermöglichen – besonders für Geimpfte. Projekte, die ihnen digitale Formate näherbringen, sollten weiterhin gefördert werden.
Als fachliche Basis für den Austausch führten auch bei der fünften Sitzung verschiedene Expertinnen und Experten mit Impulsvorträgen in das Themenfeld ein. Dr. Michael Konrad vom Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg skizzierte zu Beginn die verschiedenen Maßnahmen, die seit Ausbruch der Pandemie von der Landesregierung auf den Weg gebracht wurden. Unter anderem war bereits im April vergangenen Jahres im Zuge des ersten Lockdowns zusammen mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim eine sogenannte Psycho-Hotline eingerichtet worden, die von rund 750 Fachkräften aus dem Bereich Psychotherapie und gemeindepsychiatrischen Hilfen betreut wurde. Diese hohe Zahl an qualifizierten Beraterinnen und Beratern habe dazu geführt, dass fast alle Anrufe ohne Wartezeit direkt durchgestellt werden konnten, so Konrad, der im Sozialministerium als Referent für die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes zuständig ist. Insgesamt hatten während der dreimonatigen Laufzeit der Hotline mehr als 8.000 Menschen angerufen. In vielen Gesprächen sei es um die Themen Isolation, aber auch die persönliche psychische Erkrankung sowie Ängsten wegen der Corona-Pandemie gegangen, so Konrad. Die Beraterinnen und Berater hatten den Eindruck, dass sie dem größten Teil der Anrufenden zumindest etwas weiterhelfen konnten.
Das Sozialministerium prüft zurzeit, ob eine solche Hotline auch außerhalb der Pandemie eingerichtet werden kann, um den Bürgerinnen und Bürgern den niedrigschwelligen Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten zu erleichtern. Derzeit steht die Webseite mit Selbsthilfetools zur Verfügung (https://www.psyhotline-corona-bw.de).
Der Leiter des Instituts für Klinische Psychologie am Klinikum Stuttgart, Prof. Dr. Matthias Backenstraß, stellte anschließend die neuesten Studien und Forschungsergebnisse zu möglichen Langzeitfolgen vor. Kontaktbeschränkungen seien ein Aspekt der Pandemie, der nur schwer isoliert betrachtet werden könne. Daneben spielten weitere Stressfaktoren eine Rolle, zum Beispiel, dass die Dauer der Pandemie nicht vorhersehbar sei und dass es individuelle Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche gebe. Auf der psychologischen Ebene sei der erlebte Kontrollverlust ein wichtiger Faktor. Die Expertinnen und Experten seien sich mittlerweile einig, dass man sich die Folgen der Pandemie für verschiedene gesellschaftliche Gruppen anschauen sollte. Jeder Mensch habe ein Grundbedürfnis nach Gemeinschaft. Monatelange Kontaktvermeidung könne Depressionen und andere psychische Belastungen fördern und behindere Jugendliche in ihrer sozialen Entwicklung, so der Psychologe und Psychotherapeut am Zentrum für Seelische Gesundheit: „Soziale Einsamkeit erhöht die psychische Belastung – Kontrolle und Handlungsfähigkeit reduzieren sie.“
Bemerkbar machen sich die Folgen der Kontaktbeschränkung unter anderem auch bei der Telefonseelsorge Stuttgart, die seit dem Lockdown im vergangenen Jahr einen signifikanten Anstieg an Anrufen registriert hat. In jedem einzelnen Gespräch sei es um das Thema Corona und die damit verbundenen Folgen gegangen, so die Leiterin der Telefonseelsorge, Martina Rudolph-Zeller. Einsamkeit sei immer schon ein wichtiges Thema in den Gesprächen gewesen. Durch Corona komme nun noch ein starkes Gefühl der Angst dazu. Der auferlegte Rückzug über solch einen langen Zeitraum sei für viele eine enorme psychische Belastung, die womöglich lange wirke. Das Gefühl, verwundbar zu sein, werde bleiben, so Martina Rudolph-Zeller: „Unsere Welt ist nicht so stabil, wie wir dachten. Gerade junge Menschen wird das prägen.“
„Physische Distanz muss nicht soziale Distanz heißen“, so Carmen Stadelhofer, ehrenamtliche Initiatorin von zivilgesellschaftlichen Projekten und digitaler Nachbarschaftsarbeit: „Neue Medien können wirkungsvolle Mittel gegen Einsamkeit sein und ermöglichen das Miteinander ohne Grenzen, unabhängig von Alter, Herkunft, Sprache oder Raum.“ Die ehemalige Leiterin des Zentrums für allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung an der Universität Ulm hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Projekte initiiert, bei denen insbesondere ältere Menschen aktiviert wurden und Menschen aus verschiedenen Ländern und mit gleichen Interessen auf virtuellem Weg zusammenkommen konnten. Gut angenommen werden unter anderem die Mitmach-Projekte im Projekt „VIVES@BW Virtuell verbunden – Seniorinnen und Senioren in Baden-Württemberg” (http://vives-bw.de), das vom Staatsministerium gefördert wird. Hier können Interessierte online Vorträge, Arbeitsgruppen, Liederabende, Angebote zum gemeinsamen Kochen und anderes finden. „Wenn es gelingt, auch virtuell lebendige Gemeinschaften zu erleben, können wir Menschen aus ihrer Isolation holen und ihren Ängste und der Einsamkeit etwas Positives gegenüberstellen“, so Carmen Stadelhofer.
Bei der sechsten Runde der Online-Beteiligung am 20. Mai 2021 wird sich das Bürgerforum mit den Auswirkungen des Lockdowns auf das Bildungssystem auseinandersetzen. Im Mittelpunkt steht dabei insbesondere die Situation der vielen Schülerinnen und Schüler im Land. Unter anderem soll auch die Frage diskutiert werden, inwieweit an die verantwortlichen Fachkräfte im Bildungswesen neue Anforderungen an die digitale Qualifizierung gestellt werden müssen.
Weitere Informationen
Für das Bürgerforum Corona sind insgesamt 50 Bürgerinnen und Bürger aus dem ganzen Land nach einem Zufallsverfahren ausgewählt worden. Gemeldet hatten sich wesentlich mehr Menschen. Inhaltliche Grundlage des Forums ist eine umfangreiche Themenlandkarte, die in einer Online-Beteiligung bewertet, bearbeitet und ergänzt wurde.
Zusammensetzung des Bürgerforums Corona
Für das Bürgerforum wurden über 2.000 Menschen zufällig ausgewählt und angeschrieben. 258 Menschen hatten sich daraufhin gemeldet und sich bereit erklärt, mitzuwirken. Aus diesen 258 Personen wurden 50 Personen ausgelost. Dabei wurden die Interessierten so eingeteilt, dass die Zusammensetzung des Bürgerforums am Ende die Bevölkerungsstruktur angemessen widergibt. So ist die Hälfte der Teilnehmenden Frauen. 22 Prozent haben einen Migrationshintergrund. 42 Prozent der Teilnehmenden haben Abitur, einen vergleichbaren Abschluss oder ein Studium. 58 Prozent haben einen Real-/Haupt- oder Volksschul-Abschluss. Die Altersverteilung entspricht ungefähr der Altersverteilung im Land. Die Teilnehmenden sind zwischen 17 und 81 Jahre alt. Die Teilnehmenden kommen aus allen Regierungsbezirken und aus städtischen wie ländlichen Gebieten. Die Teilnehmenden kommen aus folgenden Gemeinden:
Eberstadt (1 Person), Ehingen (Donau) (1), Ellwangen (2), Emmendingen (2), Freiburg im Breisgau (3), Freudenstadt (3), Illerrieden (2), Kaisersbach (1), Karlsbad (4), Karlsruhe (1), Kißlegg (5), Mannheim (1), Oberreichenbach (1), Offenburg (1), Plochingen (4), Ravensburg (1), Rheinhausen (2), Schopfheim (3), Stuttgart (3), Tiefenbronn (1), Tübingen (1), Waiblingen (6), Weinheim (1).
Link zum Bürgerforum Corona auf dem Beteiligungsportal: https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/mitmachen/lp-16/buergerforum-corona/
Link zur Themenlandkarte: https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/beteiligungsportal/StM/Buergerforum_Corona/Themenlandkarte_Buergerforum_Corona-final.pdf
PM Staatsministerium Baden-Württemberg