Haben Sie heute schon etwas verpasst? Den Zug hoffentlich nicht, aber z.B. die neueste Nachricht auf Twitter, Facebook und Co? Oder haben Sie sich im Supermarkt einen Joghurt gekauft für die Mittagspause und mussten sich zwischen 22 Sorten entscheiden? Und letztlich gegen 21 davon?
Unsere Welt wird immer bunter und vielfältiger, das Angebot in fast allen Bereichen des Lebens stellt uns immer mehr vor die Qual der Wahl. Telefontarife, Nachrichtenportale, Wetterapps, ständig müssen wir uns zwischen vielen Optionen entscheiden. Und dann gibt es wieder etwas Neues, das noch besser ist. Eine echte Qual, die nicht wenig Zeit und Energie schluckt. Wobei das Wort Qual in diesem Zusammenhang seltsam anmutet, wenn wir nur ein bis zwei Generationen zurückdenken. Die Menschen damals hätten sich diese Fülle in ihren kühnsten Träumen nicht ausdenken können und eher an ein Paradies gedacht, als an die Qual der Wahl. Für uns heute können die fast endlosen Möglichkeiten natürlich Chancen sein, ohne Frage, aber sie stellen auch einen großen Stress dar. Wie sollen wir uns denn für etwas entscheiden, wenn wir damit gleichzeitig so viele andere Möglichkeiten verwerfen? Natürlich wird manches durch den Geldbeutel diktiert oder durch andere Einschränkungen, aber alles in allem leben wir in einer Kultur der Möglichkeiten. Pech nur für die, die aus ihr herausfallen, weil sie arm, krank oder benachteiligt sind. Nicht genug, dass sie einen Mangel spüren, sie empfinden ihn vielleicht auch noch stärker angesichts der überbordenden Fülle der anderen. Doch ich bin überzeugt, dass uns allen diese Fülle nicht gut tut. Nicht nur angesichts von wachsenden Müllbergen und einer Wegwerfmentalität kommen mir diese Zweifel. Ich beneide keine jungen Eltern, die ihre Kinder durch das Waren- und Medienangebot lotsen müssen. Auch Jugendliche, die ihre Aufmerksamkeit unter 150 Facebookfreunden verstreuen und sonst weg vom Fenster wären, tun mir leid. Denn ich habe entdeckt, wie gut es tut, auch mal etwas zu verpassen. Plötzlich ungefüllte Zeit zu haben oder sich mit einer Sache intensiv und ungeteilt beschäftigen zu können. Im Hier und Jetzt diesen Joghurt genussvoll auszulöffeln, den Blick in einem Wolkenhimmel zu verlieren und jenseits aller möglichen Alternativen zu spüren: So wie es ist, ist es gut. Und dabei Dinge zu verpassen, ohne es zu bedauern. Diese Momente des Einsseins mit sich und der eigenen Welt haben auch schon Menschen zu Zeiten der Bibel gebraucht. Nicht umsonst fordert Jesus uns in der Bergpredigt dazu auf, uns nicht zu viel Sorgen zu machen um den nächsten Tag, den wir ja nur bedingt beeinflussen können. Wir sollen es machen wie die Vögel unter dem Himmel oder die Lilien auf dem Feld, uns freuen an dem, was jetzt ist. Und nicht diese Unbeschwertheit vertreiben mit Gedanken an alles, was morgen kommen könnte. „ Leben ist das, was gerade passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen“, so drückt es John Lennon einmal aus. Vielleicht verpassen wir unser Leben ja bereits, wenn wir nur ja nichts verpassen wollen? Es geht sicher nicht um eine Einladung zum verantwortungslosen Handeln, vieles braucht natürlich unser kluges Vorausdenken. Aber hin und wieder täte es uns wohl gut, uns auch einmal mit dem zu begnügen, was ist, es zu schätzen, zufrieden zu sein und Gott sorgen zu lassen. Wenn er das für die Vögel und Lilien macht, warum dann nicht auch für uns? Ein guter Grund, wie ich finde, um sich am morgigen Sonntag im Gottesdienst daran zu erinnern. Und hinterher einfach die Seele baumeln zu lassen und möglichst vieles zu verpassen, ohne es zu bedauern.
Sabine Stövhase
Caritas-Zentrum Göppingen