„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“ – diese Redensart konnte man an den Tischen der Göppinger Vesperkirche öfter mal hören. Sechs Wochen lang war die Stadtkirche Göppingen Gasthaus und Treffpunkt für Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten.
Es gab lebhafte Gespräche und neue Einsichten. Da saß die von knapper Grundsicherung lebende Rentnerin neben der alleinerziehenden Mutter von drei Kindern, der arbeitslose Hartz-IV-Empfänger neben dem Bankangestellten, der Wohnsitzlose mit Schlafplatz im Erfrierungsschutz-Container neben dem pensionierten Pfarrer, die aus der Klinik entlassene Rekonvaleszentin neben dem fröhlich plaudernden Rentnerehepaar, der in die Insolvenz geratene Geschäftsmann neben den die Mittagspause genießenden Schülerinnen….. Eine bunte Mischung von Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Schicksalserfahrungen. Mittags um 12 Uhr gab es eine kurze Andacht, abwechselnd gehalten von Pfarrerinnen und Pfarrern des Kirchenbezirks. Neben dem leiblichen Hunger sollte auch der seelische Hunger gestillt werden. Also der Hunger nach einem guten Wort, nach Anerkennung und Trost.
Das Sprichwort „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“ stimmt eben bloß halb! Ein voller Magen allein reicht noch nicht aus, um die Seele glücklich zu machen. Da muß noch was hinzukommen: eben die Erfahrung, ein wertvoller und geachteter Mitmensch zu sein, kurz: die Erfahrung von Liebe. Wenn Jesus im Evangelium von sich sagt: „Ich bin das Brot des Lebens“, dann spricht er uns auf diesen Hunger der Seele nach Angenommensein und Liebe an. Das Wort „Evangelium“ heißt übersetzt: „ Frohe Botschaft“. Ihr Inhalt ist die Zusage: „Du bist ein wertvoller, von Gott geliebter Mensch. Niemand darf Dir Deine Würde nehmen. Freu Dich dran und hilf mit, daß andere sich auch dran freuen können!“ Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die auf Jesus hören. Sie ist dazu da, diese Zusage auf alle mögliche Weise erfahrbar werden zu lassen. Zum Beispiel auch in der Vesperkirche. Für mich ist die Vesperkirche ein Hoffnungszeichen in einer Zeit, in der die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht und tiefe Gräben zwischen verschiedenen Gruppen aufgerissen werden. Das Hoffnungszeichen wird zum „Mahnzeichen“, dass wir nicht müde werden, uns für mehr Gerechtigkeit und das friedliche Miteinander der Verschiedenen einzusetzen. Denn neben dem leiblichen und dem seelischen Hunger gibt es noch eine dritte Art von Hunger: den Hunger nach Gerechtigkeit und Frieden. Dieser Hunger soll im Hause Gottes keinesfalls gestillt – er soll geweckt werden! Er soll ein „bohrender Hunger“ bleiben, dass wir im Sinne Jesu mit vielen anderen unsere Stimme gegen menschenfeindliche Tendenzen erheben und Hoffnungszeichen für ein respektvolles Miteinander der Verschiedenen setzen – ähnlich wie in der Vesperkirche. Nicht die Satten und Selbstzufriedenen hat Jesus in seiner berühmten Bergpredigt selig gepriesen, sondern diejenigen, die sich den Hunger und Durst nach Gerechtigkeit bewahrt haben.
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen