Die St.-Martins-Legende erzählt von Armut, von Mitgefühl und der Bereitschaft zu helfen. Sie ist uns allen sehr bekannt: Martin war römischer Soldat, ließ sich mit achtzehn Jahren taufen, wurde Mönch und später Bischof von Tours. Dieser Kirchenmann aus dem vierten Jahrhundert stieg zum beliebtesten Heiligen Europas auf, ist der Diözesanpatron der Katholischen Kirche in der Diözese – und zwar deshalb, weil er bekannt war für seinen Gerechtigkeitssinn und seine große Liebe zu den Armen. Ohne Zögern teilte Martin seinen Mantel mit einem frierenden Bettler. Jahr für Jahr wird die Geschichte nachgespielt, um insbesondere Kinder mit den hohen Werten der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe vertraut zu machen. Auch in unseren Kirchen und Kindertagesstätten geschieht das.
Wichtig erscheint mir, gerade weil es nach wie vor viel Not bei uns und auf der Welt gibt, dass bei allen Menschen, besonders bei Kindern und Jugendlichen in der Entwicklung, das Mitfühlen eingeübt und besonders vorgelebt wird. Denn das Nachfühlen, das Mitfühlen ist eine entscheidende Triebfeder für den Wunsch nach Gerechtigkeit. Und Jesus war immer der Mitfühlende. Wenn wir unsere Kinder also zu Menschen erziehen wollen, die einen Blick für die Ungerechtigkeit in der Welt haben, die dafür Verantwortung übernehmen und Bereitschaft zum Teilen entwickeln sollen, dann müssen wir sie in ihrer Fähigkeit unterstützen, mit anderen zu fühlen; und dies aus ihrer jeweiligen eigenen Lebenswirklichkeit heraus. Wir sind im Alltag ständig herausgefordert, ehrliche Antworten Kindern zu geben auf Fragen wie diese: „Warum sitzt der Mann da mit dem Schild und einem Hund auf dem Boden in der Fußgängerzone?“, „Warum hat Maike immer so alte Sachen an?“, „Wieso hat die Frau nur ein Bein?“ Der Bettler in der Fußgängerzone hat kein Geld und der Hund ist vielleicht sein einzigster Freund. Maikes Eltern sind zu arm, um ihr neue Sachen zu kaufen. Die Frau hat durch einen Unfall ein Bein verloren.
Und wenn Kinder dann noch erleben dürfen, dass wir – die Eltern, Freunde, Nachbarn – alle von der Armut und dem Elend anderer betroffen und bereit sind zu teilen, dann wird diesen Kindern Gerechtigkeit etwas wert werden. So steht der Vater in der Bahn für die alte Frau auf, die Tante legt dem Bettler etwas in seinen Hut. Die Eltern sprechen am Mittagstisch darüber, wieviel sie für „Missio“, „Adveniat“ oder „Brot für die Welt“ spenden wollen.
Weil die Martinsgeschichte jedes Jahr neu aufgeführt wird, hält sie den Gedanken an Nächstenliebe auf ihre Weise wach, ist zeitlos. Das ist gut so. Und vielleicht dringen manche in diesen Tagen gesungene Lieder dann ein in unser Herz und Christus wird spürbar: „Wie St. Martin möcht´ ich werden, wie St. Martin möcht´ ich sein, teilen, was ich hab´ auf Erden, dafür bin ich nicht zu klein“.
Gesegnetes Martinsfest!
Norbert Köngeter, Stadtdiakon, Katholische Kirche Göppingen