Sonntagsgedanken: „Bedingungslos geliebt?!“

Es gibt sie: Menschen, die andere bedingungslos annehmen können. Sie haben eine ganz besondere Ausstrahlung, ein offenes Gesicht, wachsame Augen, ja, man sieht ihnen fast schon an, wie gut sie zuhören können. Bei solchen Menschen fühle ich mich wohl. Ich spüre: Hier werde ich nicht argwöhnisch abgeschätzt, nicht vorschnell beurteilt. Hier darf ich sein, wie ich bin, ohne meine Schwächen kaschieren und meine Stärken prahlerisch hervorheben zu müssen. Da kehrt Ruhe ein…

Wenn ich mich in eine leere Kirche setze, spüre ich das manchmal auch. Nun muss ich nichts leisten, nun darf ich durchatmen. Tief im Herzen glaube ich, Gott nimmt jede und jeden bedingungslos an, selbst Menschen, die auf krumme Wege geraten sind.

Doch wie passt diese wichtige Glaubensüberzeugung zusammen mit dem Abschnitt aus dem Matthäusevangelium, der an diesem Wochenende in allen katholischen Gottesdiensten vorgelesen wird: Jesus sagt, dass diejenigen seiner nicht würdig seien, die ihre Familien mehr liebten als ihn. Es gibt Abschnitte in unserer Heiligen Schrift, an denen ich mich reibe, die mich provozieren. Ich lerne etwas, wenn ich diese Texte nicht verärgert zur Seite lege, sondern mich mit ihnen kritisch auseinandersetze. Ich erlebe Jesus als Provokateur, der sich nicht verharmlosen lässt, wie wir das oft gern täten. Also: Wie passt das zusammen – unsere Grundüberzeugung, dass Gott alle Menschen bedingungslos liebt, und Jesu Provokation, nur diejenigen seien seiner würdig, die ihn mehr liebten als ihre nächsten Familienangehörigen?

Wenn ich jemanden provoziere, dann bezwecke ich damit meistens, dass jemand sich auf etwas neues einlässt, fast von selbst auf einen neuen Gedanken kommt, den er zuvor so noch nie gedacht hatte. Ich tue dies in der Hoffnung, dass sich etwas zum Guten ändert, sich unsere Beziehung womöglich verbessert. Wozu provoziert Jesus mich mit seiner Bedingung, ich solle ihn mehr lieben als die Menschen, die mir nah sind? Bestimmt will er nicht, dass mir andere Menschen immer gleichgültiger werden sollen, während ich mich in eine Frömmigkeit einigle, die blind nur auf Gott schaut. Jesus sagt ja, dass er wir ihn lieben, wenn wir unsere Mitmenschen lieben.

Die Provokation liegt meiner Meinung nach im Wort „LIEBEN“. Das ist mehr als „nett und höflich sein“. Wir sind zu vielen Menschen freundlich. Aber das ist nicht mit „Liebe“ gemeint. Freundlichkeit ist eine wohltuende Haltung, die ich mit ein wenig Disziplin einüben kann. „Liebe“ ist viel mehr! Sie meint den anderen ganz und gar, sie ist ehrlich und echt. So will Gott von uns geliebt werden, weil auch er uns so liebt – kompromisslos und wahrhaftig. Da hat alles Platz, da muss nichts beschönigt und verharmlost werden. Diese Liebe verzeiht und schenkt immer wieder Möglichkeiten zum Neuanfang. Gott nimmt uns als Gegenüber ernst. Seine Liebe kann uns befähigen, so zu lieben, wie er uns liebt.

 

Pastoralreferentin Agnes Steinacker-Hessling, Rechberghausen-Wäschenbeuren

 

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