Ausgerechnet in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders zum 1. Mai 1963 verfasst Heinrich Böll seine „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“. Provokant und mit viel Tiefsinn hinterfragt der Schriftsteller darin die neu gewonnenen Werte im Blick auf die Bedeutung der Arbeit für den Menschen:
Ein schicker Tourist trifft auf einen schäbigen Fischer. Zwei Lebenswelten prallen aufeinander, noch mehr zwei Lebenseinstellungen. Der getriebene Tourist schwärmt dem armen Fischer vor zu welchem Wohlstand und vor allem zu welcher Ruhe er es bringen könnte, wenn er nur immerzu aufs Meer hinausfahre um Fische zu fangen. Paradoxerweise aber ist es am Ende er, der Tourist, in seinen schicken Kleidern, der anfängt über den Wert seines Arbeitens nachzudenken. Denn all das, was er dem Fischer verheißen hat, lehnt dieser mit der Begründung ab, dass er es bereits habe.
Arbeiten um zu leben, leben um zu arbeiten? Wo stehen wir heute mehr als 50 Jahre später?
Da ist die alleinerziehende Mutter, die neben ihren drei Kindern und der dementiell erkrankten Mutter zwei Jobs hat, weil es sonst nicht zum Leben reicht; da ist der Angestellte, der aus Angst freigesetzt zu werden, lieber morgens und abends ein paar unbezahlte Stunden dranhängt um überhaupt rumzukommen; da ist die Geschäftsführerin, die es nicht einmal wagt krank zu sein, weil sie sonst Kunden verprellen könnte.
Wo stehen wir heute? Und wie gehen wir mit unseren Schwächen und mit den Schwachen unserer Gesellschaft um? Wo haben sie einen Platz?
Ich habe einen Traum, dass wir Menschen uns wieder in unserem Wert und unserer Würde Ernst nehmen und achten als Ebenbild des großen und wunderbaren Gottes.
Gut möglich, dass wir uns auf diesem Weg in unserem Konsumverhalten einschränken, dass wir dem Wirtschaftsdiktat von immer mehr und weiter eine Absage erteilen müssten.
Aber wäre es das nicht Wert, wenn wir dafür schon hier und jetzt mehr Leben und uns entfalten könnten?
Auch darüber lohnt es sich am Tag der Arbeit, am 1. Mai, nachzudenken.
Pfarrerin Christiane Waldvogel, Waldeck