Sonntagsgedanken: Abgestürzt

Urlaub. Schüleraustausch. Die eigenen vier Wände hinter sich lassen. Sich auf Neues einlassen, so waren die meisten von ihnen gestartet auf ihre Reise nach Barcelona. Mit bunten Erfahrungen, neuen Eindrücken und frühsommerlicher Wärme im Fluggepäck ging es am Dienstag zurück in die Heimat. Aber der Traum ist abgestürzt. Die Sonne in den südfranzösischen Alpen zerschellt. Wir können wohl nicht nachempfinden, was das heißt für Angehörige und Freunde, für Geschwister, Töchter und Söhne, die auf ihre Lieben vergeblich warteten und seither grausam spüren, was es heißt, dass sie nicht mehr wiederkommen, dass Brücken abgebrochen und Beziehungen zerstört sind. Was hätte noch gesagt, erzählt, geklärt werden müssen? Wie viel Liebe wäre noch im Fluggepäck gewesen – und wie viele Rechnungen sind jetzt offen?

Es gab Zeiten, da blickte er strahlend in die Welt: Er sprühte vor Begeisterung, verwandelte Wasser in Wein, machte Pläne für die Welt und für ein friedliches Zusammenleben der Menschen. Er sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Er sah eine Zukunft vor sich, in der es keine Verlierer gibt und Solidarität unter den Menschen eine Selbstverständlichkeit sein wird. Er lebte so sehr in der Nähe Gottes, dass für ihn Gott nicht weiter weg war als die Vögel unterm Himmel und die Blumen auf dem Felde. Und noch im Letzten erkannte er das Angesicht dessen, den er „Vater“ nannte. Dann aber kam der Palmsonntag, der Einzug in Jerusalem. Was mit „Hosianna“ und Jubel begann, endete mit dem „Kreuzige ihn!“ und dem Tod. Sein strahlendes Gesicht ist erloschen. Ein Sterbender, der desillusioniert ist von den Menschen. Alle Hoffnung, alles Glück in seinen Augen, die den Himmel gesehen hatten, ist verschwunden. Jesus ist tot. Und wir spüren, dass da noch eine Rechnung mit dem Leben offen ist.

Wo stehe ich am Ende dieser schrecklichen Woche? Wie sehen die Warumfragen in meiner Biographie aus? Wer ist schuld? Bin ich Opfer? Bin ich Täter? Bin ich einfach bloß Zuschauer? So klar und einfach kann ich das gar nicht trennen. Aber eines weiß ich: Es gibt genug offene Rechnungen an das Leben, die ich mitschleppe. Die Leidensgeschichte Jesu geht mir deshalb unter die Haut, weil sie allen aus der Seele spricht, die noch eine Rechnung offen haben.

Gott hat den Tod nicht verursacht. Den von Jesus nicht und auch nicht den der Schüler aus Haltern. Gott hat den Tod Jesu aber auch nicht verhindert. Auch nicht den Flugzeugabsturz. Was Gott mit dem Tod zu tun hat, das kommt erst an Ostern heraus. Die Trostbotschaft des Leidens Jesu ist: Gott lässt den leidenden und sterbenden Jesus nicht los. Er leidet mit. Er stirbt mit. Er stürzt ab in den Tod und wird gerade so unsere offenen Rechnungen begleichen und die Verlierergeschichten umschreiben. Für mich heißt das: Wenn wir meinen tiefer und schrecklicher, finsterer und grausamer kann es mit uns nicht mehr zugehen – er ist da. Dort unten, wo wir niemanden hinwünschen, immer noch unter uns, neben uns, mit uns. Wir sind mit unserer Schuld nicht mehr allein. Wir sind im Tod nicht allein. Das kann man im Grunde genommen in keinem Katechismus lernen. Das kann man nur erfahren. In allen Fragen und mit allem Zweifel.

Andreas Weidle

Evang. Stadtkirchengemeinde Oberhofen

 

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