Sonntagsgedanken: Die Lebenden und die Toten

„Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen. Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.“ So sagt ein Sprichwort. Beide brauchen einander. Die Toten brauchen uns Lebende. Tot zu sein ist zunächst absolute Ohnmacht. Da braucht es Menschen, die dann das nötige und sinnvolle tun: Für eine würdige Bestattung sorgen, die Erinnerung bewahren, das Gute, das in einem Menschenleben war, weiterführen. Aber auch umgekehrt brauchen wir Lebenden die Verstorbenen: Aus ihrer Lebenserfahrung können wir schöpfen. Und noch im Tod können Sie uns helfen, besser zu verstehen, was wirklich wichtig ist und was nicht.

Bernhard SchmidGerade jetzt im November werden wir vielfach an unsere Toten erinnert. Ein ganzer Reigen von Gedenktagen prägt diesen Monat: Allerseelen, Totensonntag, Volkstrauertag. Es ist gut, dass es diese Formen des gemeinschaftlichen Gedenkens gibt. Das zeigt: Keiner muss mit seiner Trauer allein bleiben. Gerade angesichts des Todes können wir Menschen die innere Verbindung miteinander erleben und gestalten. Der Tod trennt uns nicht nur, in gewisser Weise verbindet er auch alle Menschen miteinander.

Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist einem beständigen Wandel unterworfen. Manche Formen, wie sie noch Generationen vor uns üblich waren, passen für uns heute nicht mehr so. Auf der anderen Seite sollten wir aber auch vorsichtig sein, das, was an Sterbe- und Trauerkultur über Jahrhunderte gewachsen ist, leichtfertig aufzugeben. In vielem steckt eine tiefe Lebenserfahrung. An keinem Punkt des Lebens sind wir so sehr auf Rituale angewiesen, wie in der Trauer. Gerade dann, wenn ich die eigene Ohnmacht spüre, kann ein Ritual und eine bestimmte Form Halt und Sicherheit in aller Verunsicherung geben. Schmerzlich empfinde ich es, wenn Angehörige im Umgang mit den Verstorbenen da auf wenig zurückgreifen können. In dieser Situation ein Ritual jetzt neu zu erfinden, ist höchst schwierig. Wie wohltuend erlebe ich es da, wenn jemand auf ein Gebet, ein Lied oder auf ein Zeichen (wie eine Kerze, eine Blume, Weihwasser…) zurückgreifen kann. Wenn ich scheinbar nichts mehr tun kann, – das kann ich tun. Das nimmt der Ohnmacht etwas von ihrer scheinbaren Allmacht.

Und wie gut ist es, dass wir unsere Friedhöfe seit alters her im Bereich der Lebenden haben. Auch wenn sie Orte der Trauer sind, sind sie doch nicht bedrückend oder Orte der Dunkelheit. Das sollten wir uns von niemand einreden lassen. Sie zeigen, wie selbstverständlich die Toten zu den Lebenden gehören. Sie sind mindestens genauso Orte der Lebenden: der Begegnung, des Lebens. So manche ältere oder auch jüngere Menschen haben mir schon erzählt: „Den oder jene habe ich auf dem Friedhof kennengelernt…“ Es ist daher so wichtig, dass unsere Friedhöfe für alle Menschen gut erreichbar sind. Die Toten können uns Lebenden die Augen öffnen. Lebende und Tote – wir gehören zusammen: Im Gebet und in vielfältigen Zeichen bleiben wir verbunden.

Pfarrer Bernhard J. Schmid, Kath. Kirchengemeinde St. Markus – Liebfrauen, Eislingen

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