Sonntagsgedanken: Deine Anne

Sie sind fast im gleichen Alter: die Neuntklässler der Dr. Engel-Realschule in Eislingen und Anne Frank, als sie ihre Erlebnisse 1942-1944 während ihrer 761 Tage im Versteck in ihrem weltbekannten Tagebuch niederschrieb. „Unterschiedlicher kann eine Jugend kaum verlaufen“, denke ich, als ich mit meinen Schülerinnen und Schülern die Ausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ in der Stadtkirche in Göppingen besuche.

k640_kerstincvjmhomepageDoch schnell ergeben sich Berührungs­punkte, beispiels­weise als unser Peer-Guide die Jugendlichen bittet, einen für sie typischen Tagesablauf zu erstellen. Schrittweise werden aus diesem Tagesablauf all die Dinge herausgenommen, die der jüdischen Bevölkerung durch die Diskriminierung des NS-Regimes nach und nach verwehrt worden war: das Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, das Besuchen einer Schule, das Entfernen vom Wohnort. Bald blieb nicht mehr viel mehr als das Schlafen, Aufstehen und Waschen übrig. Und selbst das musste im Versteck der Familie Frank ganz leise, unauffällig und zeitlich getaktet gesche­hen. Die Eintönigkeit, die Langeweile, aber auch die Angst vor Entdeckung war spürbar geworden. Und auch die Enge des Versteckes der jüdischen Familie Frank in den nazibesetzen Niederlanden wurde durch eine Rauminstallation, die genau die Abmessungen der Räumlichkeiten im Hinterhaus einnahm, erlebbar. Kaum Raum für Privatsphäre, für Rückzug, für die eigene Entfaltung – ich fühlte mich an manch beengte Wohnsituation in Gemeinschaftsunterkünften erinnert.

Aber nicht nur dieses konkrete Erleben ließ Anne Frank mit ihrer Geschichte näher rücken, es sind auch ihre Themen, die in ihren Tagebüchern laut werden. So fragt sie sich einmal, wer sie nun eigentlich sei. Sie, die sie am 12.6.1929 in Frankfurt am Main geboren wurde, die 1933/1934 nach Amsterdam emigrierte. Was war sie nun? Eine Jugendliche, ein Mädchen, eine Jüdin, eine Deutsche, eine Migrantin? Die Schubladen, in die wir die Menschen auch heute noch gerne stecken, sind in der Ausstellung ganz augenfällig und sie gehen genau dieser Fragestellung nach der Identität eines Menschen nach, bergen in den dort zu sehenden Filmsequenzen aber auch manch Überraschendes. Sie rütteln auf und stellen in dem aktuellen Teil der Ausstellung unbequeme Fragen: Was sind wir? Täter? Opfer? Zuschauer? Wie geschieht Diskriminierung heute und was können wir dagegen tun? Sich für mehr Toleranz und Demokratie einzusetzen, beginnt im Kleinen. So wie es Anne Frank am 26. März 1944, einige Monate vor ihrer Deportation nach Bergen-Belsen, selbst notiert: „Wie herrlich es ist, dass niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt langsam zu ändern!“

Mich hat die Tiefe ihrer Gedanken sehr bewegt, ähnlich wie ihren eigenen Vater, Otto Frank, der als einziger aus der Fa­milie den Holocaust überlebte und die Tagebücher seiner Tochter später ver­öffent­lichte. Sie erzählen von den Träumen, Ansichten und Fragen einer Jugendlichen. Ganz ähnlich wie sich Jugendliche auch heute auf YouTube oder anderen Plattformen präsentieren und davon er­zählen, was sie ausmacht und wovon sie träumen. Damit ist „Deine Anne“ nicht einfach die Signatur unter jedem Tagebuch­eintrag, sondern Anne Frank wird „Deine Anne“ vor allem dort, wo sie uns mit den Fragen berührt: Wer bin ich? Was macht mich aus? Was ist der Mensch, dass Gott seiner gedenkt und sich seiner annimmt? (Psalm 8) Bis zum 27. Oktober ist das anhand der Ausstellung in der Stadtkirche in Göppingen noch möglich.

 

Kerstin Hackius, Pfarrerin an der Lutherkirche in Eislingen

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