Erfahrungen und Perspektiven der Bürgerbeteiligung

„Bürgerbeteiligung ist zu einem selbstverständlichen Teil im Planungs- und Gesetzgebungsverfahren der Verwaltung geworden und in die DNA des Landes übergegangen. Wir haben viel Kompetenz entwickelt“, sagten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Gisela Erler am Dienstag (16. Februar 2016) in Stuttgart. Staatsrätin Erler hatte dem Kabinett über die letzte Sitzung des Kabinettsausschusses für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft berichtet, der sich über Erfahrungen und Perspektiven der Bürgerbeteiligung in den Ministerien ausgetauscht hatte. „Der zivilisierte Streit gehört zum Kern einer funktionierenden Demokratie. Er erfordert aber auch eine entsprechende Kultur“, sagte Kretschmann.

Um den neuen Politikstil umzusetzen, bedarf es einer veränderten Behördenkultur in der Landesverwaltung. „Qualifizierungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Landesverwaltung sind unerlässlich. Hier sind wir mit entsprechenden Fortbildungen der Führungsakademie, um die Beteiligungskultur zu systematisieren und weiterzuentwickeln, auf offene Ohren in den Verwaltungen gestoßen“, so die Staatsrätin.

„Die Landesregierung hat nicht nur neue Strukturen in der Verwaltung geschaffen, sondern auch Strukturen aufs Gleis gebracht, damit die Menschen ihr Engagement leben können“, sagte Kretschmann. Um bereits vorhandenes Wissen abzurufen und zu vernetzen, habe die Staatsrätin beispielsweise die Allianz für Beteiligung ins Rollen gebracht, ein Netzwerk, das sich mit fast 100 Initiativen über das ganze Land erstreckt.

Angesichts der großen humanitären Aufgabe bei der Flüchtlingsaufnahme habe die Landesregierung frühzeitig erkannt, dass die Zivilgesellschaft bei ihren Engagements gestärkt und unterstützt werden muss, erklärte Staatsrätin Erler. Aus diesem Grund habe sie gemeinsam mit dem Städtetag Baden-Württemberg und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren das Handbuch „Willkommen!“ als Ratgeber für die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit herausgegeben. Als erstes Bundesland gebe Baden-Württemberg darüber hinaus Starthilfe für kommunale Flüchtlingsdialoge. „Denn auch bei der Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft setzen wir auf Bürgerbeteiligung. Ziel ist es, Skeptiker und Kritiker aktiv einzubinden und Sorgen ernst  zu nehmen“, betonte die Staatsrätin. Neben inhaltlichen Fragen zu den Themenfeldern Bauen, Wohnen, Lernen, Arbeiten, Gemeinschaft und Sicherheit gehe es bei den kommunalen Flüchtlingsdialogen insbesondere darum, den Kommunen einen Werkzeugkasten an die Hand zu geben. Erler: „Wir möchten Kommunen dabei unterstützen, das Thema Integration partizipativ zu begleiten und so mittel- und langfristige Perspektiven für das Zusammenleben und die Integration von Flüchtlingen zu entwickeln.“

Neben dem zivilgesellschaftlichen Engagement habe sich auch gezeigt, dass Bürgerinnen und Bürger insbesondere bei Großprojekten ihre Ideen einbringen wollen. „Wie diese Ideen zu prüfen und abzuwägen sind, haben wir mit dem Planungsleitfaden aufgezeigt“, sagte Erler. Die Entscheidung treffe am Ende zwar immer noch die Behörde, aber sie müsse diese ausführlich erklären. „Die Erfahrung zeigt, dass die Ideen des Planungsleitfadens auch weit über dessen eigentlichen Anwendungsbereich hinaus strahlen und die Ansätze lokale Streitthemen entschärfen können“, so die Staatsrätin.

Bei der Bürgerbeteiligung habe man auch die Wirtschaft hinter sich. „Die Unternehmen sehen Bürgerbeteiligung inzwischen als Selbstverständlichkeit an“, sagte Erler. Die Sorge vor längeren Verfahren spiele in Baden-Württemberg mittlerweile eine untergeordnete Rolle. Erler: „In den Unternehmen läuft das unter Risiko- und Kostenmanagement.“ Im Rahmen der Stuttgarter Erklärung habe die Bauwirtschaft ausdrücklich ihre Unterstützung zugesagt. Der Planungsleitfaden und eine Richtlinie des VDI zur Bürgerbeteiligung wurden inhaltlich zudem aufeinander abgestimmt. „Wir wollen und können Streit mit mehr Bürgerbeteiligung nicht vermeiden. Aber wir haben die Streitkultur deutlich verbessert“, betonte Ministerpräsident Kretschmann.

„Die Bereitschaft zum Dialog fördern auch die Änderungen bei der direkten Demokratie. Mit Zustimmung aller Fraktionen des Landtags haben wir die Quoren maßvoll gesenkt und die Anwendungsfälle direkter Demokratie beispielweise auf die Bauleitplanung ausgeweitet“, sagte die Staatsrätin. „Ich bin der Überzeugung, dass sich direkte Demokratie und das System der repräsentativen Demokratie sehr gut ergänzen. Die Aussicht auf direktdemokratische Entscheidungen erhöht auf allen Seiten die Dialogbereitschaft.“ Dabei habe Protest in den vergangenen Jahren einen legitimen Platz in der Gesellschaft erhalten. „Protest ist die Keimzelle von neuen politischen Erkenntnissen, Bewegungen und Entwicklungen. Die Landesregierung geht ganz offen damit um“, betonte die Staatsrätin. Ein Musterbeispiel für gelungene Bürgerbeteiligung sei beispielsweise der Standortsuchlauf für das neue Gefängnis im südlichen Landesteil, gegen das es teilweise starken Protest in den in Betracht kommenden Städten gegeben habe. Über Jahre hinweg habe sich die Standortsuche schwierig gestaltet und war umstritten. „Es ist uns jedoch durch ein transparentes Verfahren, an dem alle Beteiligten engagiert mitgewirkt haben, gelungen, ein positives Votum der Bürgerinnen und Bürger in Rottweil zu erreichen. Dieser Beteiligungsprozess zeigt, dass auch solche schwierigen Entscheidungen im Konsens mit den Beteiligten zu einem guten Ergebnis geführt werden können“, sagte Erler.

„Mit dem Beteiligungsportal haben wir zudem ein bundesweit beachtetes neues Medium geschaffen. Hier werden die Bürgerinnen und Bürger früh und umfassend über Projekte und Initiativen unterrichtet. Sie können sich einbringen und auf die Entscheidungsfindung der Regierung einwirken“, so die Staatsrätin. Rund ein Drittel der Kommentierungsverfahren hätten zu Klarstellungen oder Änderungen geführt. Auf dem Beteiligungsportal kritisch kommentiert wurde beispielsweise die im Anhörungsentwurf zum Hochschulrechtsänderungsgesetz vorgesehene kostendeckende Gebührenpflicht für Studierfähigkeitstests und Auswahlgespräche im Rahmen von Aufnahmeprüfungen und Auswahlverfahren. Die Gebührenpflicht für Studierfähigkeitstests und Auswahlgespräche wurde letztendlich zurückgenommen.

„Wir haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass es bei der Politik des Gehörtwerdens nicht ausschließlich darum geht, erhört zu werden. Es muss allen klar sein, dass trotz Bürgerbeteiligung am Ende nicht alle vom Ergebnis überzeugt sein können. Es geht vielmehr um die Akzeptanz des Verfahrens und den Austausch der Argumente. Und es ist immens wichtig, den Menschen klar zu verdeutlichen, ob es sich um Bürgerbeteiligung handelt oder um direkte Demokratie – hier gab es landesweit eine steile Lernkurve“, erklärte Ministerpräsident Kretschmann. Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie seien allerdings zwei Seiten der gleichen Medaille, ergänzte Erler: „Mit Bürgerbeteiligung ist auch direkte Demokratie fundierter, begründeter und manchmal werden sich Bürgerentscheide dadurch erübrigen, dass eine Einigung oder befriedete Entscheidung über die Bürgerbeteiligung entstanden ist. Beide Elemente auszubauen und zu verzahnen, das wird die kommende Herausforderung sein.“

PM

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