Heiliger Abend auf der MS Neptun – Prächtige Stimmen treffen auf unerträgliche Manieren

Wir schreiben das Jahr 1970. Die MS Neptun, unser Kombischiff auf dem Weg nach Afrika, steuert über Dakar, Pointe Noire, Kongo-Matadi, Lobito und Luanda. An Bord herrscht die gewohnte Disziplin und Ruhe – bis drei neue Besatzungsmitglieder das Bordklima ins Wanken bringen.

Das waren wüste Burschen. Ihre Brustkörbe wölbten sich wie Panzer, die Schultern breit und schwer wie Wasserbüffel, die Fäuste hart wie Schlaghämmer – und ihre Manieren entsprechend roh.

Einst hatten sie als brave Knaben gegolten, die tragenden Stimmen eines Chores in ihrer Heimatstadt, hell und rein wie Glockenklang. Doch die Melodie ihres Lebens kippte. Gemeinsam begannen sie krumme Wege zu gehen, suchten das Abenteuer im Schatten, nicht im Licht.

Direkt aus dem Jugendheim traten sie den Weg zur Seefahrt an – drei Gestalten, die mehr nach Sturm als nach Ordnung rochen. Und so standen sie nun an Deck, ein Trio aus verlorenen Stimmen, deren Vergangenheit zwischen Chorprobe und Gaunerei zerrissen war.

Der Kapitän, ein besonnener Mann, begrüßt traditionell jeden Neuen persönlich und notiert die Anschriften der Angehörigen. Doch die drei verweigern jede Auskunft. Ihr Auftreten ist roh, burschikos und respektlos. Bald machen sie sich über den Kapitän lustig, singen Spottlieder – und verblüffen zugleich mit ihren prächtigen Stimmen, die sie zu einer fast professionellen Gesangsgruppe formen.

Die Stimmung an Bord kippt. Zwischen rauer See, harter Arbeit und den ständigen Provokationen wächst die Belastung. Die Schiffsführung erwägt sogar, die Störenfriede in Dakar der Polizei zu übergeben.

Am Heiligen Abend läuft die Neptun in Dakar ein. Mit der heiß ersehnten Weihnachtspost verteilt der Kapitän Briefe und Päckchen – für alle, nur nicht für die drei. Doch dann überrascht er: Mit gütigem Lächeln überreicht er auch ihnen Post und Geschenke, die er selbst bei deren Angehörigen organisiert hat. Betroffenheit und Tränen folgen.

Die drei bitten, ein Weihnachtslied singen zu dürfen. Der Kapitän stimmt zu – und plötzlich erklingen dieselben Stimmen, diesmal mit ehrlichem, rührendem Text. Die Mannschaft ist bewegt. Später wird bekannt: Die drei stammen aus derselben Gegend, hatten einst gemeinsam im Kinderchor gesungen und waren über Umwege in die Seefahrt geraten.

Für die Dauer der Reise bleiben sie unter Auflagen an Bord. Doch in Bremen endet ihre Laufbahn abrupt – die Ausbildung in der Seefahrt ist für sie vorbei.

Alfred Brandner

Permanentlink zu diesem Beitrag: https://filstalexpress.de/filstalexpress/199422/heiliger-abend-auf-der-ms-neptun-praechtige-stimmen-treffen-auf-unertraegliche-manieren/

Schreibe einen Kommentar