Offener Brief der ver.di-Erwerbslosen in Stuttgart zum Koalitionsvertrag

An die Bundesregierung
Sehr verehrten Damen und Herren,

wir ver.di-Erwerbslose vertreten u.a. die Menschen, die in Ihrem Koalitionsvertrag der Arbeitsverweigerung bezichtigt werden und für die Sie „Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärfen“ wollen. „Sanktionen müssen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden können“.

Kann unser Sozialstaat unter den Bedingungen Ihrer Herangehensweise zur Militarisierung und einer taumelden Wirtschaft noch aufrecht erhalten werden? NEIN!

Rüstung kontra Sozialstaat

Milliarden und Abermilliarden für eine Militarisierung, der unsere Nation vor 80 Jahren abgeschworen hatte. „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“. Angesichts der aktuellen Kriegshysterie und einer massiven Militarisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, fehlt Geld für Kultur, Bildung, für die erreichte Sozialität oder dem Wohnungsbau. Menschen in allen Ländern der Welt wollen in Frieden leben und arbeiten. Das sind grundlegende Bedürfnisse. Aufrüstung aber bedeutet grundsätzlich das Gegenteil zum friedlichen Leben und Arbeiten.

Die Bevölkerung wird auf die Schizophrenie eingeschworen, je mehr Misstrauen unter den Ländern resp. zwischen den zwei traditionellen Ost-West-Blöcken, desto mehr ungezügelte Bewaffnung. Und umso mehr ungezügelte Bewaffnung, umso sicherer der Weltfrieden? Netanjahu bringt es am 22.6.2025 auf den Punkt: „Frieden kommt durch Stärke.“

Das Verhältnis des Abbaus unseres Sozialsystems zu den geplanten Unsummen für eine rasante Aufrüstung wird im Koalitionsvertrag natürlich nicht verdeutlicht. Milliarden Euro in die Hand, mit denen Sie die Großkonzerne „unterstützen“. Die Konzerne danken es, indem sie in großem Maße Arbeit verlagern und tausende Beschäftigte entlassen. Die, die noch in Arbeit sind sollen mehr und länger arbeiten.

Die Spaltung in der Bevölkerung wird vorangetrieben, indem Sie Arbeitslose als Verweigerer verunglimpfen und Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten in üblicher Ausdrucksweise als Wirtschaftsflüchtlinge darstellen, die sich in „unserer“ sozialen Hängematte ausruhen wollen.

Wir lehnen die im Vertrag deutlich werdende Inhumanität dieser Politik zuriefst ab. Sie sind gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung gerichtet. Zudem werden zu viele gesellschaftliche und kulturelle Notwendigkeiten vernachlässigt und auf reine Erwerbsarbeit reduziert.

Deutschland ist rohstoffarm und der Weg, an Ressourcen zu kommen, ist seit Jahrhunderten mit Leichen gepflastert. Das heute noch gängige Ignorieren oder zumindest Hinnehmen von Kinderarbeit für unsere Konzerne zeigt den neokolonialen Charakter unseres Systems. Mit freundlicher Rücksichtnahme auf Großkonzerne und damit hauptsächliche CO2-Emittenten wird das Lieferkettengesetz zur Eindämmung
von Ausbeutung, Kinderarbeit und Umweltverschmutzung in großem Stil aufgeweicht und bietet so „eine Anleitung zum Wegschauen (bpb).“

Karriere mit Gleichberechtigung?

Dass „die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen […] ein entscheidender Faktor zur Fachkräftesicherung [ist]“ und „Wir […] Familien helfen [wollen], den alltäglichen Spagat zwischen Kindererziehung, Arbeit, Haushalt, Pflege und auch Erholung besser bewältigen zu können“, klingt auf den ersten Blick sehr gut. Daß dieser Spagat auf eine Multitasking-Ausschlachtung zu weiterer Profitmaximierung hinausläuft, steht zwischen den Zeilen. Kinder erziehen, Familie hüten und am Arbeitsplatz „Gewehr bei Fuß“ stehen.

Leerstand verhindern und Mieten reduzieren

Weiter steht im Koalitionsvertrag: „Mieter müssen wirksam vor Überforderung durch immer höhere Mieten geschützt werden. Wir stärken die städtebauliche Entwicklung unseres Landes, gerade auch in den ländlichen Räumen, bekämpfen Leerstand in strukturschwachen Regionen, stärken Innenstädte und soziale Infrastrukturen und passen sie an Klimawandel sowie Barrierefreiheit an“.
Genaueres Hinsehen in ältere Koalitionverträge lassen erkennen, dass solcherlei Aussagen nichts Neues sind.
Das sind alles überfällige Vorhaben, die schon vorhergehende Regierungen vorhatten, und zwar nicht nur in „strukturschwachen Regionen“. Dazu gesellt sich die alte Erscheinung von Spekulation von Grund und Boden sowie mit leerstehenden Gebäuden, die zu schwindelerregenden Mieterhöhungen führen. Wohnungsbau gehört wieder in die öffentliche Hand.

Gesundheit

Das gleiche gilt für das privatisierte Gesundheitssystem. Es wird im Koalitionsvertrag angemerkt, dass „wir […] eine gute, bedarfsgerechte und bezahlbare medizinische und pflegerische Versorgung für die Menschen im ganzen Land sichern [wollen]. Dafür wagen wir tiefgreifende strukturelle Reformen, stabilisieren die Beiträge, sorgen für einen schnelleren Zugang zu Terminen und verbessern die Arbeitsbedingungen für die
Beschäftigten im Gesundheitswesen“.

Hier werden Zustände gefordert, die vor 2004 (Umsetzung der Agenda 2010) noch existierten, als Gesundheit noch öffentliche Sache war und ausschließlich der menschlichen Fürsorge diente. Nun ist Krankheit ein reines Wirtschaftsgut und die Behandlungen, zuweilen unnötige Operationen sowie fragwürdige Medikationen werden über das Fallpauschalen-Menü organisiert.

… und es bleiben viele Fragen

Was bezwecken Sie? Sie fordern das ein, was Sie selbst einst abgeschafft haben? Ist es nicht ein Wählerauftrag, den grundlegenden Bedürfnissen nachzukommen?

Und ist Ihnen der Umweltschutz keine tiefergreifende Betrachtung wert? Wir haben nur diese eine Erde, welche Zukunft hinterlassen Sie unseren Kindern und Enkel, wenn nichts unternommen wird, um die Umweltzerstörung aufzuhalten?

PM Ausschuss der ver.di-Erwerbslosen in Stuttgart

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