In Frankreich, und zwar in der Gegend von Piemont, gibt es einen alten Brauch. Wenn am Ostermorgen die Glocken läuten, dann laufen alle so schnell sie können an den Dorfbrunnen. Dort waschen sie ihre Augen mit klarem, kühlen Brunnenwasser.
Was das soll? Vermutlich ahnen viele von denen, die mitlaufen, nicht, dass dieser alte Brauch wohl ursprünglich eine religiöse Handlung war, eine Art Gebet. Die Menschen baten um neue Augen, um österliche Augen. Sie wollten besser sehen können, was sich in ihrem Leben durch die Auferstehung verändert hat. Und das wollen wir doch auch!
Die Osterbotschaft zu verkündigen, das ist einfach. An Sieg des Lebens zu glauben, das fällt uns schwer. Selbst die Apostel hielten die Botschaft von der Auferstehung für leeres Geschwätz. Ihre Augen waren gefangen in der Welt des Karfreitags und mit dem Tod Jesu sahen sie sich all ihrer Hoffnung beraubt. Dunkelheit hatte sie erfasst, so dass sie das Licht des Ostermorgens nicht sehen konnten.
Und wie steht es um uns? Können wir das zarte Licht des Ostermorgens erkennen? Manchmal scheint es, als ob die Dunkelheit unserer Welt selbst diesen Hoffnungsschimmer auffrisst. Angesichts von Leid, Not und Tod fällt es uns schwer, an den Sieg des Lebens zu glauben. Wir sind gefangen in unseren Sorgen und Nöten und können das zarte Pflänzchen der Hoffnung kaum wahrnehmen. Unsere Augen sind wie umnebelt und sehen nur das, was sie zu sehen gewohnt sind.
Auch die Jünger Christi mussten lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und erst die Begegnung mit dem Auferstandenen hat den Aposteln die Augen geöffnet. Sie durften erfahren, dass der Gekreuzigte wirklich lebt, dass er bei ihnen ist, ihnen neuen Mut und neue Hoffnung schenkt.
Der Botschaft allein konnten sie nicht glauben. Erst die Erfahrung neuer Hoffnung inmitten aller Verzweiflung hat ihnen die Augen geöffnet. Nun konnten sie die Welt mit anderen Augen sehen. Plötzlich erkannten sie, dass Gott bereits am Werk ist, dass seine Liebe leben lässt und Leben über den Tod hinaus verheißt.
Dunkelheit, Leid und Tod wird es weiterhin geben, aber nun gibt es Hoffnung. Und dieses Fünkchen Hoffnung sollten wir und nicht nehmen lassen, denn es kann unser Leben verwandeln und die Welt verändern. Wer Hoffnung hat, der setzt sich ein für das Leben, für ein menschliches und gutes Leben. Wer Hoffnung hat, der steht auf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Wer Hoffnung hat, der hat die Mächte des Todes schon hinter sich gelassen.
Gehen wir zum Brunnen wie die Menschen von Piemont. Waschen wir unsere Augen, damit wir die Zeichen des neuen Lebens nicht übersehen. Jedes versöhnliche Wort, das eisiges Schweigen durchbricht, jedes Lächeln, das die Herzen öffnet, jedes Gespräch, das aufmuntert, jede Hand, die zärtlich tröstet, trägt in sich die Botschaft der Auferstehung. Das Leben siegt, der Tod ist überwunden. Christus ist auferstanden!
Ich wünsche ihnen ein frohes und gesegnetes Osterfest.
Dekan Martin Ehrler, Geislingen