An dem Abend, an dem ich diese Besinnung schreiben wollte, fiel mir partout nichts Rechtes ein. Ich war unsicher. Alle Ideen wurden verworfen. Schließlich gab ich auf und ging ins Bett. Und wie das so ist, wenn etwas Unerledigtes auf der Seele lastet: man schläft nicht gut. An den vielzitierten biblischen Satz „Den Seinen gibt´s der Herr im Schlafe“ dachte ich in diesem Moment nicht.
Jedenfalls wachte ich früh auf und hörte dann die Morgenglocke von der Göppinger Oberhofenkirche herüberläuten. Mir kam die Gedichtzeile von Eduard Mörike in den Sinn „….Ängste, quäle dich nicht länger, meine Seele! Freu dich! Schon sind da und dorten Morgenglocken wach geworden“ . (Aus dem Gedicht „In der Frühe“, das anfängt mit der Zeile „Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir…“). Ah ja, die Oberhofenglocke! Für mich war das ein tröstliches Signal, daß die Nacht mit ihren schweren Gedanken endet und nun ein neuer Tag anfängt mit neuen Möglichkeiten und neuen Impulsen. Jeder Morgen hat ja etwas Verheißungsvolles an sich, etwas vom ersten Tag der Schöpfungserzählung, an dem sich das Licht gegen die Finsternis durchsetzt.
„Ich zähle nachts die Stunden, bis endlich der Morgen kommt“ sagte mir ein Mensch, der unter Schlaflosigkeit litt. Ein anderer sagt: „Ich kann nicht schlafen, wenn ich an die bevorstehenden Prüfungen denke“. Wir kennen solche Situationen. Da ziehen sich die Stunden quälend lang hin. „Es wühlet mein verstörter Sinn noch zwischen Zweifeln her und hin und schaffet Nachtgespenster“ heißt es in Mörikes Gedicht. Ganz ähnlich klagt die Beterin in Psalm 77: „Meine Augen hältst du, daß sie wachen müssen; ich bin so voll Unruhe, daß ich nicht reden kann“. Das Licht des Morgens wird sehnlichst erwartet. Die Morgenglocken in Mörikes Gedicht sind Vorboten des kommenden Tageslichts, in dem die schemenhaften „Nachtgespenster“ sich auflösen und die Dinge wieder klar umrissene Konturen annehmen.
Neben Zeitmessung und Zeitangabe haben die Kirchenglocken in unserer christlichen Tradition noch eine weitere Bedeutung: Sie laden ein zu Gebet und Gottesdienst. Sie erinnern an Gott, an Ursprung und Ziel. Sie machen uns bewußt, dass wir unterwegs sind, Verantwortung haben und angewiesen bleiben auf Beistand und Gnade. Wenn in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, die Abendglocke vom Kirchturm ertönte, hielt meine Oma in ihren Alltagsbeschäftigungen kurz inne, strich mir über den Kopf und murmelte ein Gebet. Ich war ein Kind, habe nicht viel begriffen, habe aber gefühlt: Das ist jetzt ein sehr besonderer, ein kostbarer Moment. Sollten solche kostbar-heilsame Momente uns Erwachsenen verschlossen sein? Keinesfalls! Vielleicht gelingt Ihnen, wenn Sie das nächste Mal die Glocken vom Kirchturm hören, ein kurzes Innehalten, ein tiefes Aufatmen, ein tröstlicher Gebetssatz wie: „Gott, meine Zeit steht in deinen Händen“.
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen