Zu meinen wohligsten Kindheitserinnerungen gehören die Übernachtungen bei Opa und Oma. Die wohnten auf der anderen Seite des Dorfes, jenseits der Brenz, die das Dorf in zwei Hälften teilte. Wenn meine Mutter mir das Rucksäckle packte und mich auf den Weg über die Brenz hinüber zu den Großeltern schickte, kam das für mich einer halben Weltreise gleich.
Stolz stapfte ich durchs Dorf. Ich war auf dem Weg „in die Ferien“, sagte man. Abends durfte ich ins „Gräbele“, also ins Ehebett von Opa und Oma schlüpfen. Das war ein Himmelbett mit einem Gebirge von riesigen weichen Daunenkissen und Zudecken. An der Stirnwand hing eines dieser großen, für die damalige Zeit typischen Schlafzimmerbilder im Querformat. Einen sanft blickenden, jünglingshaften Jesus mit schönen langen Haaren und in ein wallendes Gewand gehüllt sah man da am Ufer eines Teiches auf einem Stein sitzen. Ein Lämmlein hatte er im Arm, eine Hütehund schmiegte sich an sein Knie, der Hirtenstab lehnte an seiner Schulter. „Der gute Hirte, der Heiland“, sagte meine Oma. Im Ufergras weidete eine Herde Schafe. Einige standen mit den Vorderpfoten im Schilf und nippten etwas Wasser. Der andere Hütehund stand aufrecht daneben und hatte ein wachsames Auge auf alles. Im Hintergrund war der Teich gesäumt von ein einem schwarzen, etwas unheimlich wirkenden Tannenwald. Darüber ging im wolkenreichen dunkelblauen Abendhimmel gerade die Sonne unter. Ihre letzten Strahlen tauchten die ganze Szene in ein warmes tröstliches Licht….„
„Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude…“ sang Oma als Abendlied. „Der Heiland paßt auf uns auf“, sagte sie und strich mir über den Kopf. Opa brummte ein bißchen mit und fing bald an, leise zu schnarchen…. Bei Oma und Opa im Gräbele unter dem Bild des Guten Hirten – das war ein Rundum-Wohlgefühl von Glück und Geborgenheit, eine Wappnung gegen alle Ängste der Kinderwelt, eine prägende religiöse Erfahrung für´s Leben.
Der morgige zweite Sonntag nach Ostern wird im kirchlichen Kalender der Gute-Hirte-Sonntag genannt. Biblisches Leitmotiv ist Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“. Das ist der bekannteste Psalm der Bibel. Konfirmanden lernen ihn immer noch auswendig. Unzählige Menschen sind beim Beten dieses Psalms in ihrem Vertrauen zu Gott schon gestärkt worden. Viele verbinden mit diesem Psalm ähnlich tröstliche Erfahrungen wie die oben geschilderten. Der Gute-Hirte-Sonntag kann Anlaß sein, sich dankbar in Erinnerung zu rufen, auf wieviel unterschiedliche Weise wir das schützende und tröstliche Wirken des Guten Hirten in unserem Leben bisher erfahren haben. Er erinnert aber auch daran, daß viele einsame, notleidende und schutzsuchende Menschen dringend auf Trost und Geborgenheit warten. Und dass der Gute Hirte vor allem durch Menschen, also durch uns, in dieser Welt wirken will.
Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen