Inge Auerbacher ist sieben Jahre alt, als sie im August 1942 – zusammen mit ihren Eltern – ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Mitnehmen durfte sie nur ein Gepäckstück und ihre Puppe Marlene. Dank der Befreiung durch die Rote Armee 1945 hat sie den Holocaust überlebt – 13 Familienmitglieder, darunter die geliebte Großmutter, wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Über den Tag ihrer Deportation, den Lageralltag und den Glauben an das „Gute im Menschen“ berichtet die heute 87-jährige Wahl-New-Yorkerin in einem bewegenden Interview mit der Initiative Gesichter der Demokratie.
Frau Auerbacher, die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler läutete 1933 das Ende des demokratisch-parlamentarischen Systems der Weimarer Republik ein. Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?
Demokratie bedeutet Freiheit. Jeder Mensch sollte in Freiheit leben und genügend zu essen haben. Ohnehin sind „Freiheit“ und „Hunger“ für mich – insbesondere vor dem Hintergrund meiner Geschichte – die wichtigsten Wörter in meinem Wortschatz!
Und: Mir begegnet so viel Unwissen über das Judentum – in Deutschland genauso wie in Amerika. Aber wir Juden sind nicht „anders“. Wir sind auch keine Rasse. Wann begreifen die Menschen das endlich?
Sie wurden 1934 in Kippenheim – einer kleinen Gemeinde am Rande des Schwarzwaldes – geboren und besuchten die jüdische Zwangsschule in Stuttgart. Wie haben Sie als Kind den Tag Ihrer Deportation erlebt – den Tag, der alles veränderte?
1938, also im Jahr der Reichspogromnacht, verbrachte ich sehr viel Zeit bei meinen Großeltern im schwäbischen Jebenhausen – einem kleinen Dorf in der Nähe von Göppingen mit seinerzeit fast 40 Prozent jüdischen Menschen. Juden durften dort sesshaft werden – mussten jedoch höhere Steuern zahlen.
In der Kristallnacht – oder Reichspogromnacht, wie man in Deutschland sagt – wurden mein Papa und mein Großvater nach Dachau gebracht. Und dies, obwohl mein Papa bereits vom Ersten Weltkrieg schwer kriegsgeschädigt war. Nach ein paar Wochen kamen sie zurück nach Hause. Mein Papa meinte nur: „Wir müssen weg von hier!“ Also verkauften wir unser Haus und zogen zu meinen Großeltern nach Jebenhausen. Damit sie nicht alleine waren und in der Hoffnung, einen Weg zu finden, um Deutschland gemeinsam verlassen zu können. Ich war zu der Zeit vier Jahre alt.
Mit Sechs wurde ich dann eingeschult – allerdings nicht in Jebenhausen oder Göppingen, sondern in eine jüdische Zwangsschule in Stuttgart. Für den Unterricht musste ich jeden Tag nach Stuttgart fahren. Anfangs ist mein Papa noch mitgekommen – ich brauchte ja eine Erlaubnis, um mit dem Zug oder dem Bus fahren zu dürfen. Doch später mussten meine Eltern Zwangsarbeit leisten und ich habe die tägliche Reise ganz alleine gemacht – mit 6 Jahren! Dazu trug ich den Judenstern. Mein Papa sagte mir immer: „Setz dich so hin, dass du dich am Fenster anlehnen kannst – dann ist der Judenstern verdeckt.“ Ein guter Rat, denn im Zug waren immer so Rowdies, die mich als „dreckiger Jude“ beschimpften. Einmal hat mich eine ältere Dame gesehen und mir eine Tüte mit Brötchen gereicht, bevor sie den Zug verließ. Ich habe diese nette Geste nie vergessen und denke gerne zurück an diese gute Person.
Alles in allem ging ich für sechs Monate – vielleicht ein wenig länger – in diese Schule. Noch bevor ich die erste Klasse abschließen konnte, fingen 1941 die „Transporte“ an und die Schule wurde geschlossen. Glücklicherweise traf es uns zu Beginn noch nicht. Meine Mutter hat einen Brief geschrieben – irgendwie hat es geklappt. Aber einige Monate später, im August 1942, wurden wir dann nach Theresienstadt gebracht. Da war nichts mehr zu machen. Gar nichts!
Ich war die Jüngste in dem Transport mit etwa 1.100 Personen. Sieben Jahre alt. Und: Wir wussten nicht, was uns in Theresienstadt erwartet, aber es wurde gefürchtet in Richtung Osten transportiert zu werden!
Als Siebenjährige wurden Sie im August 1942 mit Ihren Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Konnten Sie während der Fahrt begreifen, was gerade passiert? Wie waren Ihre ersten Eindrücke bei der Ankunft?
Ich erinnere mich noch gut. Wir wurden zunächst in ein Sammellager nach Stuttgart gebracht. Von dort ging es mit einem überfüllten Zug – es war zum Glück noch ein Personenzug und kein Viehwagon – ungefähr zwei Tage lange weiter in Richtung Osten. Einfach aussteigen war unmöglich, denn wir wurden von Wächtern begleitet. Ich weiß noch, wie ich aus dem Fenster sah und zum ersten Mal in meinem Leben Worte in Tschechisch las – bis dahin kannte ich ja nur Schwäbisch.
Irgendwann kamen wir dann in einem Vorort von Theresienstadt an und mussten etwa zwei bis drei Kilometer zu Fuß laufen. Es waren viele ältere Leute dabei. Wir sollten alles liegen lassen und durften nur Blechgeschirr und einen Rucksack mitnehmen. Das, was wir am Leib hatten, durften wir behalten. Ich hielt meine Puppe Marlene – ich habe sie nach Marlene Dietrich benannt – im Arm. An der Schleuse wurde alles durchsucht. Und das, obwohl wir bereits vor Fahrtantritt gründlich durchsucht wurden. Dabei haben sie mir auch meine Brosche weggenommen und gesagt: „Dort, wo du hingehst, wirst du sie nicht mehr brauchen!“ Auch meine Puppe haben sie mir aus den Armen gerissen. Sie schauten in den Kopf der Puppe – eine von innen hohle Schildkröt – und gaben sie mir wortlos wieder zurück.
Nach der Schleuse kamen wir dann in die größte Kaserne dort. Wir saßen auf dem Boden – es war heiß. Kein Bett. Nichts! Direkt nach unserer Ankunft sah ich einen Mann. Einen alten Mann. Er lehnte sich weit aus dem Dachfenster – er wollte springen. Mein Papa hat ihn noch festgehalten und gesagt: „Das machst du nicht. Wir kommen schon wieder nach Hause!“ Er hat versucht, ihm Mut zu machen. Vergeblich: Am nächsten Tag ist er runtergesprungen, war tot, hatte sich das Leben genommen. Das war der Moment, in dem uns bewusst wurde, was uns erwartet.
In Theresienstadt begann Ihr „zweites Leben“ – stets dabei, Ihre Puppe Marlene. Wie war der „Alltag“, der Tagesablauf im Konzentrationslager? Gab es Situationen, die Sie bis heute nicht loslassen?
Ich war drei Jahre im Lager Theresienstadt. In der Regel „lebten“ die Männer von Frauen und Kindern getrennt. 40 bis 50 Menschen, zusammengepfercht in einem Raum mit zwei- oder gar dreistöckigen Pritschen. Weil mein Papa schwer kriegsgeschädigt war, durften wir als Familie zusammenbleiben. Unser kleines Zimmer hatte keine Fenster, keinen Stuhl, keinen Tisch, nichts – nur Pritschen, das war unser „Zuhause“ für drei Jahre. Aufgrund der Vielzahl von Menschen auf engstem Raum und mangelhaften hygienischen Zuständen kam es immer zu Epidemien – Typhus oder Scharlach.
Auch SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einer der Organisatoren des Holocausts, war ein paar Mal da. Gut möglich, dass ich ihm ziemlich nah war – ein bedrückendes Gefühl.
Ja, wie war mein Alltag: Wir hatten keinen richtigen Unterricht, sondern eher eine Art Beschäftigung. Uns wurde zwar das Einmaleins gelehrt – aber es war keine Schule. Die tschechischen Kinder hatten es etwas besser. Die Mädchen hatten eine richtig gute Lehrerin, Friedl Dicker-Brandeis. Sie war Künstlerin und hat ihnen auf alten Papierfetzen versucht, das Zeichnen zu lehren. Das hatten wir deutschen Kinder nicht. Ich konnte auch kein tschechisch – nur bis zehn zählen. Das kann ich heute noch: jeden, dva, tři, čtyři, pět, šest, sedm, osm, devět, deset.
Natürlich gab es dort, wo die schwer Kriegsgeschädigten wohnten, auch noch andere Kinder außer mir. Einer der Kriegsgeschädigten – das weiß ich noch genau – wurde durch einen Kopfschuss verwundet und trug immer eine Bandage am Kopf. Anderen fehlte ein Arm oder Fuß. Aber es waren Kinder da. Ruth beispielsweise, eine Freundin von mir, mit deren Familie wir zusammenlebten. Wir haben miteinander „gespielt“ und verbrachten stundenlang Zeit auf einem dreckigen Abfallhaufen, wo wir – wenn wir Glück hatten – noch ein paar Kartoffelschalen mit essbaren Kartoffelresten oder eine verfaulte Rübe fanden.
Ohnehin drehte sich einfach alles ums Essen, denn wir bekamen nur etwa einmal in der Woche eine kleine Portion Brot. Kein richtiges Brot wohlgemerkt – da war alles drinnen. Wir hatten kein Stück Fleisch, keine Eier, keine Milch, wir hatten nichts. Gar nichts! Morgens gab es eine „schwarze Brühe“ als Ersatzkaffee. Mittags manchmal rote Rüben und vielleicht eine Kartoffel – die konnte auch schonmal gammlig sein. Manchmal gab es eine „Suppe“, da war alles Mögliche drinnen. Und abends wieder das Gleiche.
Einmal hat mein Papa im Abfall der Kaserne einen Knorpel vom Pferd gefunden. Das war eine Delikatesse. Das ganze Leben in Theresienstadt drehte sich ums Essen – den ganzen Tag. Und um Hunger. Ich hatte immer Hunger! Deswegen sind Freiheit und Hunger die wichtigsten Wörter in meinem Vokabular.
Viele der Kinder sind umgekommen. Wir waren 15.000 Kinder und nur ganz wenige haben überlebt – eine davon bin ich. Da es in Theresienstadt selbst keine Gaskammern gab, wurden viele Kinder nach Auschwitz zur Vergasung gebracht. Auch meine Freundin Ruth. Ihre Eltern sagten noch zu mir: „Wir gehen jetzt und ihr kommt nach.“ Doch ich sah sie nie wieder. Sie hat nicht einmal ihren 10. Geburtstag erlebt.
„Für Hass bin ich nicht am Leben geblieben“: Nach Ihrer Befreiung 1945 erfuhren Sie, dass 13 Familienmitglieder ermordet wurden – darunter Ihre geliebte Großmutter. Wie schwer ist es für Sie, nicht zu hassen?
Natürlich habe ich diese Menschen nie vergessen. Wichtiger als Hass jedoch ist das Vergeben. Aber den Tätern, die meine Oma erschossen oder die Gaskammern gebaut haben, denen werde ich niemals vergeben. Dafür gibt es ein höheres Gericht im Himmel. Was ich tun kann, ist den anderthalb Millionen ermordeten Kindern eine Stimme zu geben.
Ich trage bei großen Veranstaltungen und Reden wie beispielsweise 2019 bei der UNO oder 2022 im Deutschen Bundestag immer eine Brosche mit einem Schmetterling. In Theresienstadt gab es einen ganz brillanten tschechischen Jungen, Pavel Friedman, der einst das Gedicht schrieb: „Ich sah nie wieder einen Schmetterling“. Der Schmetterling wurde das Symbol der getöteten jüdischen Kinder auf der ganzen Welt. Wir tragen daher einen Schmetterling – um zu erinnern.
Leider wird die Stimme des Antisemitismus gegenwärtig wieder lauter – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika. Wenn etwas nicht klappt, sind die Juden schuld. Leider!
„Judensterne“ auf Querdenker-Demos: Seit Monaten finden in deutschen Städten sogenannte „Corona-Spaziergänge“ statt. Was möchten Sie denen sagen, die wissentlich mit Nazis mitlaufen und den Holocaust relativieren?
Für mich ist das ein großer Blödsinn. Wie kann man die Corona-Maßnahmen mit der Geschichte des Holocausts vergleichen – das ist verrückt. Die Menschen spinnen. Das Tragen von Nazi-Symbolen auf Corona-Demonstrationen ist eine Verhöhnung der Zeit des Nationalsozialismus. Damals sind nicht nur Millionen Juden ermordet worden, sondern auch Millionen anderer Menschen.
Frau Auerbacher, welche Rolle spielt die Zeit in Theresienstadt heute in Ihrem Leben? Wie kann man den Glauben an das „Gute im Menschen“ nicht verlieren, wenn man so viel Unmenschliches miterleben musste wie Sie?
Mein Leben nach Theresienstadt war sehr schwer für mich. Ich war viele Jahre schwer erkrankt und hatte Tuberkulose an beiden Lungen. Die Erkrankung begleitet mich mein ganzes Leben, auch heute noch. Wenn ich mich mit Corona anstecken würde, wäre das sehr schlimm für mich – dann wär’s das gewesen.
Die Vergangenheit lässt sich nicht einfach reinwaschen, wie Wäsche, die nach dem Waschen wieder sauber ist. Nein, das geht nicht. Die Vergangenheit ist auch ein Wegbegleiter der Gegenwart. Wenn ich weggehe, nehme ich immer eine Kleinigkeit zu Essen mit, da ich niemals mehr in meinem Leben hungern möchte. Diesen ständigen Hunger von damals kann ich nicht vergessen – ich kämpfe mein ganzes Leben damit.
Ich habe acht Jahre Schule verpasst. Auch das hat mich geprägt – ich möchte immer die Beste sein. Zeigen, dass ich auch ein wertvoller Mensch bin. Aber nicht nur die Zeit in Theresienstadt hat mich beeinflusst, sondern auch die Zeit davor, in der ich regelmäßig als „dreckiger Jude“ beschimpft wurde. Ich war noch ein Kind! So etwas hinterlässt Spuren. Heute bin ich glücklich, habe gute Freunde und ein gutes Leben. Ich habe keinen Hunger und ich habe ein Obdach. Mit der Zeit denkt man nicht mehr jeden Tag an die schlimmen Erlebnisse von damals zurück.
Aber wenn ich die Amerikaner sehe, die regelmäßig ihr Essen wegschmeißen und immer Reste auf dem Teller lassen – das geniert mich jedes Mal. Dann denke ich zurück an die schlimme Zeit des Hungerns!
Vielen Dank für das Interview Frau Auerbacher!
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