Die Online–Veranstaltung des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) zur möglichen Reaktivierung der Göppinger Nebenbahnen war bereits wenige Augenblicke nach dem Start mit 100 Teilnehmern ausgebucht. Bürger und Politiker zwischen Teck und Rems zeigten an den Vorträgen und der Diskussion über die Strecken nach Kirchheim und Schwäbisch Gmünd (verlängerte Voralbbahn und Hohenstaufenbahn) am Donnerstag–Abend enormes Interesse. Dabei kristallisierte sich deutlich heraus, dass bei einer Wiederinbetriebnahme die Stadtbahn (Foto) nach dem Karlsruher Vorbild gegenüber einer herkömmlichen Eisenbahn deutliche Vorteile hat.
Auslöser der Reaktivierungsdiskussion ist ein Gutachten des Landesverkehrsministeriums, wonach die beiden stillgelegten Nebenstrecken wegen ihres hohen Fahrgastpotenzials grundsätzlich förderfähig wären, um sie als Bahnlinien wieder in Betrieb zu nehmen.Für den VCD–Landesvorsitzenden Matthias Lieb ist die Karlsruher Stadtbahn gerade deshalb zum Erfolg geworden, weil sie auf Eisenbahngleisen weit ins Umlandfährt und vor Ort mit einer Straßenbahnzulassung an die Bedürfnisse der Fahrgäste und die räumlichen Verhältnisse angepasst werden kann. Ihr Radius beträgt nur 25 Meter. Die verlängerte Voralbbahn nach Kirchheim könnte damit ebenerdig durch Bad Boll geführt werden. Allein deshalb sei für die Göppinger Nebenbahnen, die nach dem Willen der beteiligten Landkreise bei einer Reaktivierung möglichst kombiniert werden sollen, die Stadtbahn die bessere und günstigere Variante.Bürgermeister Hans–Rudi Bührle ergänzte, dass verschiedene Wege durchBad Boll möglich wären, eine Festlegung auf den Bereich Erlengarten wäre nicht zwingend.In seinem Vortrag verdeutlichte Lieb, dass Land, Bund und EU ihre klimapolitischen Ziele nur durch eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen im Bus–undBahnverkehr erreichen könnten.
Attraktive Bahnen mit dichtem Takt, kurzen Haltstellenabständen und günstigen Tarifen würden dabei generell gegenüber dem Busverkehr bevorzugt. Auf Nachfrage erklärte der VCD–Landesvorsitzende, dass Autofahrer besonders dann auf den Öffentlichen Personennahverkehr umsteigen, wenn eine neue Bahn schnelle und bequeme Verbindungen verspreche. Für den Förderverein “Ein neuer Zug im Kreis”, der sich seit fast drei Jahrzehnten für die Reaktivierung der Voralbbahn einsetzt, wandte sich der Vorsitzende Dieter Vetter direkt an Politik und Verwaltung. „Aufgrund der derzeitigen Zuschüsse aus Bund und Land sollten die Landkreise endlich aufwachen und die Chancen nutzen und die Strecken entsprechend ausbauen. “Für die Voralb–und Hohenstaufenbahn bescheinigte das Gutachten des Landesverkehrsministeriums ein hohes Fahrgastpotenzial, weshalb sie im Rahmen des Landesreaktivierungsprogramms förderfähig wären. Für die Wiederinbetriebnahme würden bis zu 96,5 Prozent der Kosten übernommen. Dieter Vetter betonte, dass die Forderung nach der Wiederaufnahme der Voralbbahn stets auch eine umweltpolitische Forderung war, die besonders jetzt aktuell sei. Nach der Stilllegung der Voralbbahn seien weitere Gewerbe–und Wohngebiete an der Trasse entstanden, das Bedürfnis der Unternehmensmitarbeiter und Bewohner nach einem gut funktionierenden Öffentlichen Nahverkehr wachse. Voraussetzung dafür seien abgestimmte Takte, Zubringerbusse zu den Stationen und geeignete Fahrradabstellplätze. Vetter brachte auch die Verbindung zum Stuttgarter Flughafen ins Spiel. Eine “Weilheimer Kurve” zum Anschluss an die Schnellbahnstrecke Ulm–Wendlingen wäre ebenso denkbar wie eine Anbindung über Kirchheim durch eine künftige S–Bahn über die Filderebene. Einen eindeutigen Vorteil hat die Wiederinbetriebnahme der Voralbbahn auch für die “Initiative gemeinsamweiterkommen” aus Bad Boll. Das Ziel der hier organisierten Unternehmen und Einrichtungen ist eine lokale sozial–ökologische Mobiltätswende. Nach den Worten von Sprecherin Carmen Ketterl würden viel besuchte Reiseziele wie die Evangelische Akademie, die Reha–Klinik, das Hotel Seminaris und der Heilmittel–Hersteller WALA von Göppingen und Kirchheim aus bequem und schnell erreichbar –ideal für ein Umsteuern im eigenen Verhalten und damit für eine nachhaltige Mobilität. Allerdings hätten die Streckenreaktivierungen auch Nachteile, wie die Diskussion mit Bürgern ergab. Eine junge Familie aus Schwäbisch Gmünd–Straßdorf befürchtete, dass ihr Grundstück auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs einer Wiederinbetriebnahme zum Opfer fallen könnte. Außerdem führe die ehemalige Hohenstaufenbahn weit an den neuen Wohngebieten mit potenziellen Fahrgästen vorbei. Das bestätigte auch Thomas Kaiser von der Lokalen Agenda Schwäbisch Gmünd. Er sprach von einer “Ortsumgehungsbahn”. Neubaugebiete im Stadtteil Straßdorf lägen mittlerweile sogar näher am Gmünder als am ehemaligen Straßdorfer Bahnhof. Außerdem befürchteten Radfahrer, dass der beliebte Stauferland–Radweg auf der Trasse der Hohenstaufenbahn verschwinden könnte. Daniel Sauter vom Göppinger Landratsamt, das als federführende Behörde für die mögliche Reaktivierung zuständig ist, versicherte, dass auch bei der Hohenstaufenbahn neue Stationen vorgesehen wären, die sich an den heutigen Siedlungsverhältnissen orientieren. Eine völlige Abkehr vom früheren Trassenverlauf sei aber nichts vorgesehen, da es sich sonst um keine Reaktivierung mehr handeln würde. Die Machbarkeitsstudie zur
Wiederinbetriebnahme der beiden Strecken, die Sauter nach der noch ausstehenden Zustimmung des Ostalbkreises mit seinen Kollegen auf den Weg bringen möchte, soll auch den Fahrradverkehr berücksichtigen. Matthias Lieb unterstrich für den VCD Baden–Württemberg, dass der Klimawandel eine Verkehrswende mit einem attraktiven Öffentlichen Personenverkehr erfordere. Neue Technik wie eine elektrobetriebene Stadtbahn, z. B. mit Batterien oder Oberleitungen, und kurze Wege zu Haltstellen wären der Schlüssel. Sein Fazit: „Im Kreis Göppingen hat die Reaktivierung der Boller Bahn die größten Chancen, dies gilt es zu nutzen. Mit einer Verlängerung bis Weilheim und weiter nach Kirchheim entsteht eine neue, leistungsfähige Achse für den Öffentlichen Personenverkehr. Die Hohenstaufenbahn hat ein mindestens gleich hohes Fahrgastpotenzial, doch ungleich höhere Kosten für eine Reaktivierung, so dass ein stufenweises Vorgehen sinnvoll ist.”
PM VCD Göppingen