Mit einem Tabuthema hat sich der Kreisseniorenrat (KSR) in seiner jüngsten Sitzung befasst: mit dem häufig verbreiteten Medikamentenmissbrauch. Dazu referierte das Mitglied des Vorstands des KSR, der Allgemeinmediziner Stefan Richter, Bad Boll.
Schätzungen zufolge sind in Deutschland 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Das Thema, so Richter, werde leider praktisch nur in Ärztekreisen fachlich behandelt. „In unserer Gesellschaft läuft das Problem nur unter der Decke, es wird meist nicht darüber gesprochen“, sagte der Referent
„Auch Medikamente, die ärztlich verordnete würden, beinhalten eine große Missbrauchsgefahr, nicht nur Psychopharmaka“, so Richter weiter. „Auf die Nebenwirkungen wird häufig nicht geachtet, wenn sie das Wohlbefinden vorübergehend angenehm beeinflussen können“, erläuterte Richter.
Der Mediziner betonte, dass bei Dauereinnahme bestimmter Medikamente eine verminderte Resistenz gegen Belastungen im Alltag entstehen kann. Eine große Rolle spielen nach bisherigen Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen sogenannte lebensgeschichtliche Faktoren, milieubedingte Probleme, Über- aber auch Unterforderungen, Angstzustände und Schlafstörungen. Traumata würden gern „epigenetisch“ von Generation zu Generation weitergegeben.
Die Summe der individuellen Belastungen der Patienten führen, so der Arzt, zur Gewöhnung und zur Medikamentenabhängigkeit, vor allem im Alter. „Die Betroffenen meinen, es nur noch mit Medikamenten aushalten zu können“, berichtete Richter aus seiner beruflichen Praxis. Vor allem Beruhigungs- oder Aufputschmittel würden – weil meist rezeptfrei – unter Missachtung einer vernünftigen Medikamentation dauerhaft eingenommen.
Stefan Richter hob hervor, dass die Medikamenteneinnahme vom Hausarzt koordiniert und gesteuert werden müsse. Gelegentlich würden im Rahmen der „sogenannten 3-Minuten-Medizin“ durch überlastete Ärzte auch zu große Packungen verschrieben, was einem Missbrauch Vorschub leisten könne. Auch der soziale Druck auf Patienten stelle sich oft als Problem dar, weil Bekannte oder Verwandte von guten – jedoch in der Regel sehr subjektiven – Erfahrungen mit einem Arzneimittel berichteten, ohne dass dessen Einnahme ärztlicherseits für notwendig gehalten wurde. „Hier ist allseitige Zurückhaltung geboten und das Vertrauen in die Ärzte allemal zweckmäßiger als eigene Entscheidungen“, fügte Richter hinzu.
Er erläuterte weiter, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen Beschränkungen bei der Abgabemenge vornehmen könnten, was nicht als Schikane, sondern zum Schutz der Patienten vor Überdosierungen geschehe. „Wenn, wie ich es in einem Fall erlebt habe, eine ältere Dame in einem Altersheim nur mit sieben Tabletten eines Schlafmittels über den Tag kommen konnte, dann läuft etwas schief“, erklärte Richter. Häufig sei durch eine vernünftige Dosierung dem gesundheitlichen Anliegen optimal Rechnung zu tragen. Der Referent warnte ausdrücklich vor frei käuflichen Husten-, Schlaf- oder Abführmitteln, die ohne ärztliche Verordnung grundsätzlich nicht eingenommen werden sollten.
„Migräne-Mittel können einen Herzinfarkt begünstigen und zu Durchblutungsstörungen führen“, führte Richter ferner aus und warnte eindrücklich vor der illegalen Beschaffung von Arzneimitteln. Angehörige und Freunde dürften – wenn sie es wirklich gut meinten – den Missbrauch nicht unterstützen. „Ansonsten kann dies zu einer verhängnisvollen Co-Abhängigkeit führen“, erwähnte Richter.
Auf die Frage, was denn getan werden könne, um den Missbrauch einzugrenzen, lautete Richters Vorschlag, im vertraulichen Patientengespräch müssten Konfliktfelder aufgearbeitet werden, damit die Betroffenen ihre Ängste und Befürchtungen artikulieren und ihre Scheu überwinden. „Ein zielgerichtetes Gespräch kann eine Erlösung sein“, fasste Richter seine praktischen Erfahrungen zusammen.
Eingangs der Sitzung hatte sich der neue Leiter des Kreissozialamts, Dipl.-Verwaltungsfachwirt Lehnert, vorgestellt und eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Vor Richters Vortrag hatte der neue Vorsitzende des Kreisseniorenrates, Friedrich Kauderer, auf das umfange Arbeitsprogramm des KSR für das Jahr 2018 hingewiesen.
PM