Meine Damen und Herren,
„Der Tod schlägt Schluchten des Schweigens, wo sonst eine Antwort war und nun kein Echo mehr ist; er schafft schmerzliche Leere an Tisch und Bett, wo keine fürsorgliche, wärmende Hand mehr entgegenkommt.“ Mit diesem Zitat des Theologen Christoph Demke darf ich Sie zur Feierstunde am heutigen Volkstrauertag begrüßen und Ihnen gleichzeitig dafür danken, dass Sie gekommen sind. Wie in jedem Jahr, wenn der Herbst die Blätter fallen lässt, wenn die Tage kurz und die Abende lang werden, gedenken wir der Toten. Zunächst derer, die uns noch nahe sind, weil sie uns erst kürzlich verlassen haben. Am innigsten ist unser Gedenken immer, wenn wir die Toten noch gekannt haben und sie vermissen, weil sie durch ihr Leben ein Stück unseres Lebens geworden sind; weil ihr Tod eine Lücke in uns selbst gerissen hat.
Am heutigen Volkstrauertag erinnern wir aber auch in anderer Weise daran, dass es Menschen gab, die ihr Leben durch Krieg, Terror oder Gewaltherrschaft verloren haben. Vor 103 Jahren begann der Erste Weltkrieg. 10 Millionen Tote, 21 Millionen Kriegsgeschädigte.
Vor 78 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Die unfassbare Bilanz dieses mörderischen Krieges und einer
menschenverachtenden Gewaltherrschaft waren 55 Millionen Tote und 35 Millionen Kriegsversehrte. Täglich kommen als Opfer von Krieg, Terror und Gewalt in jeglicher Form neue Gräber hinzu.
Wir sind zusammengekommen, um uns an die Gefallenen und Toten der beiden Weltkriege zu erinnern, um sie zu trauern und ihrer zu gedenken. Wir trauern um Menschen, die als Soldaten sterben mussten, wir trauern aber auch um die Kinder, Frauen und Männer aller Völker, die durch die Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir ehren den Mitmenschen, der in einem schrecklichen Krieg sein Leben verlor, der auszog, weil er keine andere Wahl hatte oder weil er von einer menschenverachtenden Ideologie und von verantwortungslosen Ideologen verblendet, vereinnahmt, missbraucht wurde.
Die Friedhöfe mit den Toten der Weltkriege sind für uns nicht nur Gedenkstätten, sie sind für uns auch Mahnmale eines schrecklichen Irrwegs unserer Geschichte.
Wir wollen nicht richten, aber wir wollen begreifen und das Mögliche tun, um zu verhindern, dass von deutschem Boden noch einmal Krieg ausgehen kann. Deshalb müssen wir uns erinnern und dürfen uns nicht wieder blenden lassen von Extremen Kräften in diesem Land.
Wir gedenken heute auch derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, die den Tod fanden, weil sie an ihrem Glauben und an ihren Überzeugungen festhielten, die getötet wurden, weil sie krank oder behindert waren oder wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer Sexualität.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht wie es Ihnen geht. Für mich ist es an solchen Gedenktagen immer wichtig zu versuchen, das Erinnern an diese Menschen, die Opfer wurden, persönlich und konkret zu machen, um nicht in allgemeinen, eher anonymen Aussagen zu verharren;
Wir brauchen einen Stachel der Erinnerung, der Trauer und Mahnung möglich macht, der die schreckliche Anonymität der Zahlen der Gefallenen, der Opfer von Gewalt, Verfolgung, Flucht und Vertreibung aufhebt und einen Zugang zu individueller Trauer eröffnet. Das feierliche Gedenken am heutigen Tag kann dieses individuelle trauernde Erinnern nicht ersetzen.
Denn erst in diesem wendet sich ein Mensch einem anderen zu, denn unsere Erinnerung schlägt Brücken
zu Menschen, die wir selbst nicht gekannt haben, die aber in der Zeit, in der sie leben mussten mit den gleichen Empfindungen und Gefühlen ausgestattet waren, die auch uns heute eigen sind. Versuchen wir deshalb vielleicht, ein klein wenig in sie einzutauchen, ihr Schicksal nachzuempfinden und Ihnen damit
nahe zu kommen.
Meine Generation und sicher auch viele von Ihnen, kennen nicht das Gefühl in einer Diktatur zu leben. Wir können uns nicht vorstellen, in allen Lebensbereichen bevormundet zu werden und nicht, wie das sein muss, nur die Informationen zu bekommen, die von der Propaganda ausgesucht wurden. Wir wurden nicht in ein System verschiedenster Organisationen gezwungen, in dem die faschistische Ideologie in perfider Weise in jungen Menschen gepflanzt wurde.
Vor über hundert Jahren wurde in einer Mischung aus Leichtsinn, Überheblichkeit und politischer Schlafwandlerei einhergehend mit für uns völlig unverständlicher Kriegsbegeisterung der 1. Weltkrieg entfesselt. Erschreckend sind noch heute die Bilder der Soldaten am Anfang. Schauen Sie in die leuchtenden Augen junger Männer, die da in ihren Uniformen mit Blumen am Gewehr in die Züge stiegen als ginge es für kurze Zeit in ein Ferienlager.
Wie hat sich wohl ein junger Soldat am Bahnsteig gefühlt ? Wohin geht es ? Wie lange bin ich fort ? Was erwartet mich ? Komme ich wieder heim ? Wie kam es zu dieser uns heute fremden Sicherheit schnell als
Sieger wieder zurückzukehren. Schauen Sie nur wenige Jahre später in die gleichen Augen, die tage- und nächtelanges Trommelfeuer, schwerste Verletzungen und Verstümmelungen, viele tote Kameraden gesehen, Giftgasangriffe miterlebt und unheilbare Verletzungen ihrer Seele erlitten hatten? Von Begeisterung und Freude keine Spur mehr, auch nicht mehr von den Blumen am Gewehr des Anfangs.
Wie war es im Zweiten Weltkrieg wohl, bei minus 35 Grad in einem Bunker in Stalingrad im Artilleriefeuer auszuharren, den sicheren Tod vor Augen? Oder auf einem Feld bei Staraja Russa wo der Bruder meines Ur-Großvaters fiel. Hans Klement wurde von einem russischen Granatsplitter getötet während die Familie hier in Holzheim wartete, während mein Ur-Großvater Karl Klement bei der Flak in Belgien war. Wie haben sie sich gefühlt, die Zuhause, oder im Feld, voller Angst auf einen Feldpostbrief warteten, der nicht ankam oder auf irgendeine Nachricht, die allzu oft die Mitteilung des Gefallen- oder Vermisstseins auf einem der zahlreichen Schlachtfelder war?
Wie muss es gewesen sein, nächtelang in Luftschutzbunkern zu sitzen und danach erleben zu müssen, dass das eigene Haus, die eigene Wohnung und alles Hab und Gut nicht mehr existierten ? Und wie erging es denjenigen, die aus unserer Stadt vertrieben wurden, weil sie einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten? Wie fühlten sich Menschen, die oft über Generationen hier gelebt hatten, als man sie in Kolonnen durch die Straßen zum Bahnhof trieb und verspottete?
Was mussten diese Menschen erleben als man sie unter unmenschlichsten Bedingungen zu Hunderten in Viehwaggons verfrachtete ehe sie nach langen Tagen in irgendeinem Lager ankamen oder in die Gaskammern getrieben wurden, um dort umgebracht zu werden ? Und wie ging es denjenigen, die in den Tagen des Kriegsendes oder danach aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden?
Sie alle waren keine anderen Menschen als wir. Die meisten hatten durch ihr Verhalten nichts verursacht, was dieses
Schicksal rechtfertigen würde. Und wir heute sind keine besseren Menschen und dürfen in unserem Land doch in Frieden und Freiheit unser Leben gestalten. Verdient im eigentlichen Sinne des Wortes haben wir es nicht mehr als sie es hätten. Auch heute gibt es in vielen Teilen der Welt Kriege, Terrorherrschaft, Verletzungen der Menschenwürde – im Nahen Osten, in Afrika, in Asien, selbst in Teilen Europas.
Auch heute leben Tag für Tag viele tausend Menschen in unterschiedlichsten Situationen in den gleichen Empfindungen wie diejenigen, um die wir an diesem Ort heute trauern. Viele versuchen ihrem Schicksal durch Flucht zu entkommen und suchen bei uns Schutz und Hilfe.
Erweisen wir uns auch in der Art und Weise wie wir mit diesen Menschen umgehen im Gedenken an diejenigen würdig, die in den Jahren nach 1933 solche Hilfe als sie sie brauchten nicht erfuhren.
Unsere Trauer darf nicht untätig bleiben. Unser Gedenken an die so schmerzlichen Opfer der Weltkriege muss in unsere Hilfe für die Menschen münden, die heute bei uns Schutz vor dem Krieg, der Gewalt und der nackten Not erflehen. Nur dann ist unsere Trauer echt und wirksam; nur dann kann sie wirklich zum Friedenschaffen beitragen.
Heute stehen wir symbolisch an Ehrenmälern oder besuchen die Gräber von Soldaten oder den verstorbenen oder getöteten Kriegsgefangenen sowie von ehemaligen jüdischen Mitbürgern.
Das Gedenken an die Toten mahnt uns zum Wach sein und lässt uns den Blick auch in das Heute und in die Zukunft richten. Albert Schweitzer hat Kriegsgräber einmal „Mahner und Prediger des Friedens“ genannt. Sie sind auch Mahnmale gegen das Vergessen. Es ist erschreckend, dass wir in der heutigen Zeit überhaupt noch darüber sprechen müssen aber die Frage der deutschen Gedenk- und Erinnerungskultur ist leider so aktuell wie lange nicht mehr.
Es gibt einige in diesem Land, die in ihrem Gedenken zum Beispiel zivile Opfer und nicht-Deutsche Opfer ausklammern. Oder die den Soldaten nicht nur Gedenken sondern sie Heroisieren. Die Schuld Deutschlands wird teilweise verharmlost oder gar zurückgewiesen. Rassismus und Antisemitismus werden als Salonfähig angesehen.
Das Erinnern an Soldaten, die im zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft haben, ist niemals loszulösen von der Erkenntnis, dass der zweite Weltkrieg ein Angriffskrieg war und damit jede deutsche Kriegshandlung Unrecht.
Dass viele Menschen im Bewusstsein gekämpft haben, ihre Pflicht zu erfüllen, ändert nichts daran, wenngleich es keine pauschalen Urteile über individuelle Schuld zulässt. Wir erinnern heute nicht an militärische „Leistungen”, sondern an die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft. Besonders im Bewusstsein der historischen Verantwortung Deutschlands ist es unsere Aufgabe, allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft zu
gedenken.
Erst mit dem Begreifen dieser historischen Verantwortung kann eine Verantwortung für unsere Zukunft entstehen und unser Gedenken eine Mahnung für Frieden und Verständigung sein.
Die Trauer, die wir heute empfinden, soll ins Leben wirken. Sie soll uns mahnen, für die Wahrung des Friedens einzutreten und Recht und Freiheit zu schützen.
Die Toten verpflichten uns, die Lebenden, Allen entgegenzutreten, die Hass sähen und Gewalt predigen, die
Mitmenschen töten, nur weil sie anders aussehen, anderer Herkunft sind oder andere Gebräuche oder Religionen leben.
Vergessen wir im Gedenken an die Toten aber niemals: Es sind nicht irgendwelche anonymen Mächte und Strukturen. Es ist immer der Mensch, der den Menschen bedroht.
Die Verantwortung liegt deshalb auch bei jedem einzelnen von uns. Lassen Sie uns dieser Verantwortung gerecht werden.
Vielen Dank
Bewegende Rede des Landtagsabgeordneten Alexander Maier zum Vokstrauertag
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