Es war eine flüchtige, aber sehr sprechende Geste: Innenminister Thomas de Maizière reichte seinem Nebensitzer auf dem Podium zur Verabschiedung freundlich die Hand und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Vorausgegangen war eine ernsthafte und kontroverse Diskussion darüber, ob es legitim ist, dass Kirchengemeinden abgelehnte Asylbewerber in ihren Räumen vor der drohenden Abschiebung schützen, ihnen also Kirchenasyl gewähren.
Von Walter Scheck
Der Nebensitzer des Bundesinnenministers war Amaniel Petros Habte, ein 20-jähriger Flüchtling aus Eritrea. Eine Kirchengemeinde in Frankfurt hatte ihn durch das Kirchenasyl vor der Abschiebung nach Ungarn bewahrt und schließlich erreicht, dass er ein garantiertes Aufenthaltsrecht in Deutschland bekam. Seit einem Jahr ist Petros Habte jetzt in Deutschland. Er hat in dieser Zeit schon so gut Deutsch gelernt, dass er fast mühelos seine Fluchtgeschichte erzählen und auf dem hochkarätig besetzten Podium fundiert mitdiskutieren konnte. Dass in Eritrea ein diktatorisches Regime herrscht, das Oppositionelle verfolgt und die Menschenrechte mißachtet, ist allgemein bekannt. Petros Habte kam als Flüchtling in Ungarn an. Er erzählt von den menschenunwürdigen Lebensbedingungen für Flüchtlinge in den ungarischen Lagern, die wie Gefängnisse geführt würden. Wenig zu essen, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, gewalttätige Übergriffe von rechtsradikalen Schlägern, wenig Schutz durch Polizei. Also schlug er sich nach Deutschland durch, stellte hier einen Asylantrag und sollte gemäß dem „Dublin II – Abkommen“ der EU-Staaten wieder nach Ungarn zurückgeschickt werden. Das Kirchenasyl war für Petros Habte und seine Unterstützer das letzte Mittel, an den Rechtsstaat zu appellieren und Schutz vor Abschiebung einzufordern.
Das Kirchenasyl als letztes Mittel, um Flüchtlingen Recht zu verschaffen und sie vor Abschiebung in menschenunwürdige und lebensbedrohliche Verhältnisse zu schützen – so sah es auch Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. Dies sei eine zentrale Wesensäußerung von Kirche und entspreche dem biblischen Auftrag. Mit ihr auf dem Podium waren Pfarrerin Dietlind Jochims, Vorsitzende der Ökum. Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, Weihbischof Dieter Geerlings von der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und Dr. Hans Michael Heinig, Professor für Verfassungs- und Kirchenrecht an der Universität Göttingen.
Ganz anderer Meinung war der Bundesinnenminister. Für ihn ist Kirchenasyl ein Angriff auf den Rechtsstaat. Wenn in einem ordentlichen rechtstaatlichen Verfahren eine Entscheidung gefallen sei, dürfe sich die Kirche nicht über das Gesetz stellen. Er räumte ein, dass hier zwei Prinzipien miteinander im Streit liegen: das Prinzip der Legalität und das Prinzip der Barmherzigkeit. Als Innenminister vertrete er das Prinzip der Legalität. Das staatliche Recht gelte für alle. In Einzelfällen mag das Kirchenasyl stillschweigend geduldet werden, keinesfalls aber dürfe es als Rechtsinstitut angesehen oder zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des Asylrechts gemacht werden. Die unterschiedlichen Positionen der Teilnehmenden blieben deutlich markiert. Einig waren sie sich darin, dass zwischen Kirchen und Staat ein gegenseitiges Vertrauen herrschen müsse, um einen annehmbaren Weg in Konfliktfällen zu finden. Dem dienten die Spitzengespräche, die zwischen beiden Seiten stattfänden.
Die Podiumsdiskussion war vom Bemühen um Vertrauensbildung bestimmt. Thomas de Maiziére und Katrin Göring-Eckardt sind Mitglieder in der Präsidialversammlung des Kirchentags. Bei allen klaren Unterschieden in der Sache gehen sie kollegial miteinander um. Auch die anderen Teilnehmenden auf dem Podium tauschten engagiert Argumente aus, hörten einander zu, gingen respektvoll aufeinander ein. Sehr beeindruckt waren sie und das ganze Publikum im Saal (etwa 500 Menschen?) von den Beiträgen des 20-jährigen Amaniel Petros Habte. Der will jetzt seinen Realschulabschluß machen und dann eine Ausbildung oder ein Studium daran anschließen. Voller Eifer und Zielstrebigkeit geht er seine Pläne an. Solche jungen Leute brauchen wir doch! Wenn man bedenkt, dass er jetzt ohne das ihm eingeräumte Kirchenasyl den Schikanen in einem ungarischen Lager ausgesetzt wäre, muß man dankbar sein, dass Kirchengemeinden Asyl gewähren. Vielleicht hat unser Innenminister ähnliche Empfindungen und Gedanken gehabt? Sie öffentlich zu äußern geht für ihn natürlich gar nicht. Aber er klopft beim Verabschieden dem jungen Flüchtling anerkennend auf die Schulter, so als ob er sagen wollte: Gut, dass Du´s geschafft hast! – oder auch: Schön, dass Du hier bist! Und dass die Frankfurter Kirchengemeinde ganz entgegen meiner Position mutig war! – Es kann sein, dass ich in die spontane menschliche Geste des Ministers zu viel hineinlese. Trotzdem ist sie für mich ein Symbol dafür, daß in allem notwendigen Streit um Rechts- und Ordnungsfragen sich gelegentlich die Mitmenschlichkeit befreiend und tröstlich durchsetzt.
Moderator Johannes Weiß sagte in seinem Schluß-Resümee, die Podiumsdiskussion sei in beispielhafter Weise des Kirchentags würdig gewesen. Dem ist zuzustimmen. Wo sonst kann man erleben, dass ein Minister- also ein Mächtiger – und ein Flüchtlingsjunge – also einer, der von den Entscheidungen des Mächtigen direkt betroffen ist – auf Augenhöhe nebeneinandersitzen und so offen miteinander diskutieren? Für mich war das eine Sternstunde des Kirchentags!