Ist der Wohlstand für alle in Gefahr? Ein BVMW-Interview mit Professor Markus Mändle

Wie die Soziale Marktwirtschaft im Zeitalter der Digitalisierung gerettet werden kann.
Die Soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhards gerät im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung zunehmend in Gefahr. Muss sie aber nicht, wenn jetzt schnellstens in Qualifizierung, Bildung, Mobilität und Netzausbau investiert wird, meint Markus Mändle, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Mit Mändle sprach Lothar Lehner, Repräsentant des BVMW-Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft in der Region Stuttgart.

Warum ist die Soziale Marktwirtschaft in Gefahr?
Mändle: Mit der Idee der Sozialen Marktwirtschaft wird das Versprechen verbunden, Wohlstand, soziale Sicherheit, und die Teilhabe ansteigender Produktivität für breite Bevölkerungsschichten zu ermöglichen. Für Alfred Müller-Armack, den eigentlichen Schöpfer des Begriffs der „Sozialen Marktwirtschaft“, wird dies vor allem durch zwei Prinzipien erreicht: den Schutz des Wettbewerbs und den sozialen Ausgleich. Nach Ansicht von Ludwig Erhard, dem „Vater des Wirtschaftswunders“, ist es primär die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft und die Wirkung des Wettbewerbs, die den „Wohlstand für alle“ schafft, so lautet ja auch der Titel seines bekannten Buches. Momentan erleben wir Megatrends der Globalisierung und Digitalisierung mit massiven ökonomischen und technologischen Veränderungen. Es besteht die Sorge, dass die Soziale Marktwirtschaft angesichts dieser Herausforderungen nicht mehr in der Lage sein wird, ihr Versprechen vom „Wohlstand für alle“ einzulösen. Globalisierung und Digitalisierung haben für Wirtschaft und Gesellschaft gravierende Folgen – vor allem auch für die Beschäftigungssituation.

Wie sehen diese Folgen aus?
Mändle: Studien prognostizieren, dass allein in Deutschland in den nächsten fünf Jahren mehr als drei Millionen Arbeitsplätze wegfallen könnten, weil Maschinen den Menschen ersetzen. Natürlich werden auch viele neue Arbeitsplätze entstehen, nur ist deren Zahl schwer vorhersehbar. Es kommt darauf an, wie gut sich unser Land für den Strukturwandel wappnet.

Wo gehen die Arbeitsplätze verloren?
Mändle: Vor allem dort, wo menschliche Arbeit infolge von Routinen durch Automaten, Algorithmen und Künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Das, was wir in der Vergangenheit schon in der industriellen Produktion erlebt haben – der Fließbandarbeiter wurde durch den Industrieroboter ersetzt – wird sich mittel- bis längerfristig in vielen anderen Bereichen unserer Wirtschaft wiederholen. Das betrifft teilweise schon jetzt die Kassiererin im Supermarkt, irgendwann auch den Berufs-Kraftfahrer – Stichwort autonomes Fahren -, sowie Mitarbeiter in Banken, Versicherungen und der verarbeitenden Industrie. Die Wirkungen der „Industrie 4.0“ bergen vor allem für Baden-Württemberg gewisse Beschäftigungsrisiken.

Dann wird der Mensch als Arbeitskraft nicht mehr benötigt?
Mändle: So pessimistisch darf man das nicht sehen. Durch die Digitalisierung entstehen ja auch laufend neue Arbeitsplätze. Etwa bei der Entwicklung, beim Verkauf und der Betreuung der neuen Technologien. Heute brauchen Unternehmen Webmaster und Experten für digitale Datensicherheit, vor 30 Jahren wusste noch niemand, was das ist. Die Arbeit wird uns nicht ausgehen, aber sie wird sich verändern. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Und: Arbeitsplätze werden vorerst dort erhalten bleiben, wo der Mensch heute noch besser ist als die Maschine. Dies sind Tätigkeiten, bei denen es auf menschliche Stärken ankommt, wie Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Kreativität, komplexes Problemlösen und kritisches Denken. Beispielsweise im Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, in der Wissenschaft, bei Ingenieuren und Journalisten, im Fachhandwerk, bei der Kundenberatung oder bei Managementfunktionen.

Wie wirkt sich das auf den Arbeitsmarkt aus?
Mändle: Insgesamt gesehen, verliert die Arbeit ökonomisch an Wert. Digitalisierung wirkt am Arbeitsmarkt wie eine plötzliche Steigerung des Arbeitskräfteangebots, was die Löhne im Durchschnitt unter Druck setzt. Sind Arbeitskräfte ersetzbar, verlieren sie zudem an Marktmacht, was ihre Chance verringert, an Produktivitätsfortschritten teilzuhaben. Dagegen wird sich – schon rein aus demografischen Gründen – die Knappheit der nicht ersetzbaren Fachkräfte mit speziellem Wissen und Fähigkeiten weiter erhöhen. Wir sehen das heute bereits am viel beklagten Fachkräftemangel. Es besteht die Gefahr einer zunehmenden Spaltung des Arbeitmarktes: Für die einen
werden die Löhne aufgrund einer höheren Grenzproduktivität weiter steigen, für die anderen werden sie sinken, zumindest relativ. Für Menschen mit geringerer Qualifikation wird es somit immer schwieriger, ihren Lebensunterhalt menschenwürdig aus eigener Kraft zu finanzieren und an Wohlstandsgewinnen teilzuhaben. Hier sind soziale Konflikte absehbar.

Und wie ist die Soziale Marktwirtschaft zu retten?
Mändle: Mindestlöhne können das Problem etwas abmildern, bergen aber ab einer gewissen Höhe die Gefahr, dass sie die Wettbewerbsfähigkeit der Menschen gegenüber den Maschinen verschlechtern, und so die Automatisierung am Ende noch begünstigen. Wichtig wäre es, die Menschen möglichst gut für die Erfordernisse des zukünftigen Arbeitsmarktes zu qualifizieren. Hierfür reicht es aber nicht aus, die Schulen lediglich mit schnellem Internet und digitalen Werkzeugen auszustatten. Die Arbeitskräfte von morgen müssen mit den neuen Technologien kreativ, innovativ und vor allem verantwortungsbewusst umgehen.

Das qualifiziert dann für die Arbeit der Zukunft?
Mändle: Nicht ganz. Jemand, der ein Tablet bedienen kann, besitzt nicht automatisch die Fähigkeit zu komplexem Problemlösen, Kommunikation und kritischem Denken. So antiquiert das klingt: Ich glaube, der beste Schutz für junge Leute, nicht irgendwann von einem Roboter ersetzt zu werden, ist eine vielseitige humanistische Bildung, die Fachwissen und Werte vermittelt. Es ist eine unsinnige Vorstellung, zu glauben, Fachwissen sei heute unnötig und es reiche aus, wenn man wisse, wo etwas geschrieben stehe. Nur jemand mit Fachwissen kann Daten und Informationen vernünftig bewerten, gewichten und einschätzen. Schließlich ist ja einer, der alle medizinischen Begriffe googelt, noch kein Arzt.

Reichen Qualifizierung und humanistische Bildung aus?
Mändle: Nein. Es bedarf auch neuer sozialpolitischer Konzepte, da nicht alle Menschen die Anforderungen des Arbeitsmarktes werden erfüllen können. Hier befinden wir uns mitten in einem kontroversen Diskussionsprozess, etwa um das bedingungslose Grundeinkommen. Neben Qualifikation und Sozialpolitik sind aber auch erhebliche Investitionen in die Infrastruktur notwendig, um langfristig Wohlstand zu schaffen. Dies sind vor allem Investitionen in Mobilität, Schulen, Hochschulen und den Netzausbau. Hier haben wir bekanntlich noch erhebliche Infrastrukturdefizite, denken wir etwa an den Zustand mancher Schulgebäude, die Probleme bei der Deutschen Bahn, die Dauerstaus, die Funklöcher, oder das Fehlen einer schnellen Internetverbindung in ländlichen Regionen. Schließlich brauchen wir auch neue Regeln für die Wettbewerbspolitik. Mit fortschreitender Digitalisierung wächst die Bedeutung von Größenvorteilen und Netzwerkeffekten, die tendenziell den Wettbewerb beschränken. Aufgabe der Wettbewerbspolitik wird es sein, geeignete Regeln zu finden, um mit der neu entstandenen Marktmacht in der digitalen Ökonomie umzugehen.

Können Sie da ein Beispiel nennen?
Mändle: Der gezielte Aufkauf von Start-ups durch marktmächtige Anbieter, um etwaige Konkurrenz zu unterbinden oder Know-how zu transferieren. Da gilt es zu prüfen, wann ein solcher Aufkauf sinnvoll ist, wann problematisch. Wenn zu früh eingegriffen wird, um ein Umkippen des Marktes in ein Monopol zu verhindern, kann das auch als Innovationsbremse wirken. Gesetze mit unklaren Rechtswirkungen stellen ein weiteres Problem dar. Nehmen wir die Datenschutz-Grundverordnung als Beispiel: Sie verfolgt ohne Zweifel ein richtiges und wichtiges Ziel, nämlich den Schutz personenbezogener Daten. Dabei zielte man vor allem auf die Giganten der Datenökonomie, erzeugte aber gleichzeitig bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, bei Verwaltungen, Vereinen und Privatpersonen einen unverhältnismäßigen Bürokratieaufwand und vor allem massive Verunsicherung. Ich erinnere mich noch an die Sorge der Vermieter, sie müssten jetzt alle Klingelschilder abmontieren, um nicht gegen den Datenschutz zu verstoßen.

Eine Forderung an die Politik, Gesetze klar und eindeutig zu formulieren?
Mändle: Schon Walter Eucken, ein wichtiger Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, forderte, dass staatliche Maßnahmen berechenbar und transparent sein sollen. Besteht Unklarheit darüber, welche Regelungen aktuell und zukünftig gelten, halten sich Investoren und Konsumenten zurück, siehe Dieselproblematik. Die Politik muss hier klare, möglichst wettbewerbsneutrale und technologieoffene Regelungen vorgeben, auf die man sich langfristig verlassen und einstellen kann. Gesetze, die zunächst einer richterlichen Interpretation bedürfen, aber auch die aktuell diskutierte Vorstellung, es sei die Aufgabe des Staates, gewissermaßen als besserer Unternehmer, „nationale Champions“ zu erschaffen, hätte Ludwig Erhard vermutlich nicht gut gefunden.

Zur Person
Prof. Dr. Markus Mändle, Jahrgang 1967, geboren in Geislingen/Steige, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim, wo er zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften promovierte. Seit 2002 ist er Inhaber der Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Kooperationswesen an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU). Er leitet an der HfWU das von ihm gegründete Institut für Kooperationswesen (IfK) und ist Mitglied des Instituts für Genossenschaftswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mändle ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zu volkswirtschaftlichen, genossenschaftlichen und immobilienwirtschaftlichen Themen.

BVMW Kreisverband Göppingen

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