Sonntagsgedanken: Erinnern , Gedenken und Gegenwart Gestalten

„Was wäre Kultur ohne Erinnerung? Was wäre Philosophie ohne Erinnerung? Was wäre Liebe zu einem Freund, zu einer Freundin, ohne die Erinnerung jener Liebe am nächsten Tag? Man kann nicht ohne sie leben. Man kann nicht ohne Erinnerung existieren.“

Das schreibt Elie Wiesel, Sohn jüdischer Lebensmittelhändler aus Sighet in den Karpaten, der als Sechzehnjähriger nach Auschwitz deportiert wurde und das Todeslager überlebte. Sein Lebenswerk war es, die verstummten Stimmen der Opfer dem Vergessen zu entreißen, die Erinnerung wachzuhalten und Unrecht und Unmenschlichkeit überall zu widerstehen, wo sie sich heute breit machen. Alle seine Bücher, die er als jüdischer Gelehrter an amerikanischen Universitäten veröffentlicht hat, kreisen um dieses Thema. 1986 hat er den Friedensnobelpreis erhalten. Das Nobelpreiskomitee schrieb: „Elie Wiesel ist einer der wichtigsten Führer und Wegweiser unserer Zeit. Seine Worte verkünden die Botschaft des Friedens, der Versöhnung und der Menschenwürde.“

Die Kirchen haben lange gebraucht, um sich selbstkritisch und sorgfältig mit dem Erbe des Antisemitismus und Antijudaismus in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. Elie Wiesel formulierte einmal den berühmten und beunruhigenden Satz: „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum.“

Viel wurde in den vergangenen Jahrzehnten geforscht, diskutiert, mit jüdischen Lehrerinnen und Lehrern gelernt und mit deutlichen Worten falsche Lehren verworfen. Der evangelische Landesbischof July sagte in diesem Jahr: „Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und gegen Menschen, der wir uns bereits in ihren ersten Andeutungen mit Abscheu entgegenstellen.“

Wiesels Leben ist ein Leben für die Erinnerung und gegen das Vergessen. Beim Erinnern geht es nicht um die Vergangenheit, die kann man nicht mehr ändern. Es geht um Gegenwart und Zukunft.

Entscheidend ist, das Vergangene zu vergegenwärtigen, es in die Gegenwart zu holen, es der Vergangenheit zu entreißen und im Heute lebendig werden zu lassen. Dann kann die Erinnerung zu einer Kraft werden, die die Gegenwart verändert und die Zukunft gestaltet.

Wo das konkret wird? Gleich morgen bei einem Vortrag im Storchen, wo es um die Zerstörung unserer Göppinger Synagoge vor 80 Jahren geht – oder beim Friedensgebet am 9.November in St.Maria und der Gedenkveranstaltung am Synagogenplatz, wo mitten im Kreis der Redner Schülerinnen und Schüler – Sechzehnjährige! – von Ihrer Beschäftigung mit einem der dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte berichten. Es lohnt sich, Ihnen zuzuhören – sie halten die Erinnerung wach und haben uns für heute viel zu sagen. Unsere Schüler fahren in die Synagoge nach Stuttgart, um dort das Judentum kennenzulernen und Juden zu begegnen. Sie nehmen an Programmen teil, wo jüdische Jugendliche für alle Fragen ihrer christlichen, muslimischen oder distanzierten Mitschülern zu Verfügung stehen. Begegnungslernen nennen wir das. Erinnern, Gedenken, Vorurteile überwinden und die Gegenwart gestalten.

Einer der kürzesten und schönsten Gedanken Elie Wiesels (1928 bis 2016) steht im evangelischen Gesangbuch:

„Um Gott zu loben muss man leben; und um zu leben muss man das Leben lieben – trotz allem!“

 

Annette Leube, evangelische Schuldekanin, Göppingen

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