Sonntagsgedanken: Für Leib und Seele

In der Göppinger Vesperkirche kann man interessante Begegnungen und Tisch-Debatten erleben. Gleich in der ersten Woche kam ein freundlicher Mensch, der allen zweihundert Anwesenden das Essen bezahlte. Er hatte Geburtstag und lud alle zur Mitfreude ein. Die Gesichter strahlten. 

Am letzten Montag war ich wieder mal dort. Nach der Mittagsandacht ließ ich mir die Oberländer Bratwurst mit Kartoffeln und Wirsinggemüse genußvoll schmecken. Alle Tischgenossen lobten das Essen. Einer von ihnen war sichtlich aufgebracht. „Haben Sie die NWZ von heute gelesen?“ fragte er mich „unglaublich, was da drinsteht! Das  kann doch nicht sein! Das ist doch ein Skandal!“ Und dann zitierte er die in der Tageszeitung veröffentlichten Ergebnisse einer Studie von Oxfam: Ein Prozent der Weltbevölkerung  besäße mehr Vermögen als die übrigen 99 Prozent zusammen, die Schere zwischen Arm und Reich gehe immer weiter auseinander,  ein mittlerer Angestellter in einem Dax-Unternehmen müßte z.B. 157 Jahre lang arbeiten, um das Jahresgehalt seines Vorstandsvorsitzenden zu erreichen. Und was dem Staat an Steuereinnahmen durch Tricks von Konzernen und Superreichen verloren gehe, summiere sich zu Milliarden. Da säßen die wahren Sozialbetrüger und nicht hier  unter denen, die gelegentlich mit Behörden  um ein paar Euro mehr an Unterstützungsleistungen stritten….  Mein Tischnachbar redete sich in Rage. „Warum tun die Politiker nichts?! Ob die in Berlin eine Antwort auf die rasant wachsende Ungleichheit finden?! Das kann man doch nicht so lassen!“

Was hätte ich entgegnen sollen? Es ist alles nicht so einfach? Profitmaximierung ist nun mal der  Motor unseres Wirtschaftssystems? Wir profitieren doch irgendwie alle davon? Wir jammern auf hohem Niveau? „Die Politiker“ möchten vielleicht schon was ändern – aber sie können es nicht, weil sie nicht genügend Wählerstimmen bekommen und mächtige Interessen entgegenstehen? –  Jedenfalls: hier in der Vesperkirche, wo Sozialhilfeempfänger und Normalverdiener miteinander essen, bekommen solche Diskussionen eine ganz eigene Brisanz.  Hier wird  offensichtlich, dass eben nicht alle vom Wohlstand profitieren. Hier gibt es Speise für unseren Leib – und eben auch Speise für unseren Hunger nach Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit. Hier in der Kirche hören wir Stimmen, die den ungerechten Verhältnissen trotzen. Maria singt  in ihrem berühmten Lobgesang: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen.“  Und unser Heiland Jesus preist diejenigen selig, die nicht resignieren, sondern sich in ihrer Hoffnung auf das Bessere nicht beirren lassen: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden!“ Solche Worte tun gut. Sie sind Nahrung für unsere Seele. Sie machen Mut, dass wir uns unverdrossen einsetzen für das  gerechte gemeinsame Leben in Gottes Welt – wie in der Vesperkirche so überall und trotz allem.

 

Pfarrer i.R. Walter Scheck, Göppingen

Anmerkung: Das Zitat aus dem Lobgesang Marias steht in Lukas 2,52 f. – Die zitierten Worte Jesu stammen aus seiner Bergpredigt, Matthäus 5,6.

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