Sonntagsgedanken: Gespenster…und wie man ihnen begegnen kann

„Gell, Du lässt mich nicht allein, Du bleibst noch da.“ Die Frage der alten Nachbarin lässt mich nicht los. Sie lebt schon lange in ihrer eigenen Welt, die abendlichen Besuche bei ihr tun mir und ihr gut und doch fällt immer wieder dieser Satz: „Du lässt mich nicht allein“. Manchmal drückt die lebenserfahrene Frau es auch so aus: „Ich hab Angst. Irgendwie.“ Trotz vorsichtiger Nachfragen nach dem Wovor und Woher kann sie es nicht genauer sagen. An manchen Tagen höre ich auch einen versöhnlichen Ton, wenn sie meint:“ Ich war schon immer ein Angsthase“. Und trotzdem: die Angst bleibt.

Angst – so steht es im Wörterbuch – kommt von Enge. Und schaut man auf manche Schlagzeile oder in Talkshows, so gewinnt man den Eindruck, dass Angst sich überall breit macht und Enge erzeugt.  „Ihr müsst die Ängste der Menschen ernst nehmen“ lautet dann der eindringliche Rat an Politikerinnen und Politiker – und auch an uns Kirchenleute.

Daran ist erstens richtig, dass Vertrauen nicht größer wird, wo Menschen den Eindruck haben, ihre Meinung sei nicht wichtig und ihnen höre niemand zu. Zweitens gibt es sie wirklich: die Dörfer und Städte, die sich sozial, demografisch und kulturell rasant verändern. Es gibt beängstigende militärische Konflikte in der Ukraine, in Syrien und anderswo. Es gibt große Verunsicherung um die Zukunft Europas. Ganz zu schweigen von den persönlichen Sorgen um Gesundheit, Armut oder Sicherheit.

Angst hat ihre ganz eigene Dynamik. Sie macht Blicke und Worte, Herzen und Hirne eng. Ein Kind zum Beispiel, unter dessen Bett ein Gespenst sitzt, lässt sich kaum mit der Auskunft trösten, es gebe gar keine Gespenster. Kurzfristig kann man es vielleicht beruhigen, aber langfristig  muss das Kind lernen, mit seinen Ängsten und Unsicherheiten zu leben. Genau dabei werden ihm einfühlsame Erwachsene helfen.

Aber was ist mit den Ängsten der Erwachsenen? Ein gesellschaftlicher Diskurs ist kein Kinderzimmer. Ich meine: wer in Familie und Beruf seinen Mann und seine Frau steht, hat das Recht als Erwachsene behandelt zu werden. Wenn man uns dagegen in immer kürzeren Abständen politische Scheinlösungen anbietet und sich Medien oder Parteien als Gespensterjäger betätigen, nimmt man uns gerade nicht ernst. Andererseits dürfen irrationale Ängste nicht als handfeste Realitäten durchgehen. Wer Angst hat, hat deshalb noch nicht recht. Und schon gar nicht hat er das Recht zu pöbeln, zu hetzen oder gar gewalttätig zu werden.

Ängste ernst nehmen? Besser: Menschen ernst nehmen! Das bedeutet: nicht erlauben, dass Ängste und Sorgen die gesellschaftliche Stimmungslage beherrschen. Es bedeutet: präzise und differenziert zu formulieren statt zu vereinfachen. Es bedeutet auch: zwischen den Ursachen und den Inhalten von Angst zu unterscheiden. Und es heisst schließlich: Ängste so ansprechen, dass nicht die Enge die Menschen erdrückt, sondern sich Weite auftun kann.

Und die alte , ängstliche Nachbarin ? Die hat schließlich zusammen mit mir entdeckt, dass sie einen wunderbaren Schatz in sich trägt, mit dem sie ihrer Angst gut begegnen kann, die die Angst ausspricht, vor Gott legt und dann verblassen lässt. Seither enden unsere Gespräche mit Psalm 23: „…und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Manchmal sagt die alte Dame diesen Psalmvers in unendlicher Wiederholung sich vor, im Idealfall schläft sie währenddessen ein. Und mich begleitet der Psalm dann nach Hause.

Schuldekanin Annette Leube

 

 

 

 

 

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