„Wir müssen draußen bleiben“ – Die neue Armut der Konsumgesellschaft – Kathrin Hartmann las in Göppingen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so steht es in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes. Er darf weder abgeschafft noch verändert werden. Aber handelt der Staat auch nach diesem Grundsatz?

Die Journalistin, 1972 in Ulm geboren, ist, wie sie selber zugibt, eine Provokantin. Sie will beschreiben, dass unsere „heile Welt“ gar nicht so heil ist, dass es unter der Decke der Harmonie Abgründe gibt, über die möglichst niemand spricht, schon gar nicht die deutsche Politikerlandschaft – egal welcher Partei.

In ihrem  ersten Buch 2009 beschrieb sie wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt, in ihrem zweiten Buch, aus dem sie im Göppinger Jugendheim St. Georg von rund 50 Zuhörern vorlas, beleuchtete sie schonungslos die neue Armut in der Konsumgesellschaft, in der arme Menschen gewissenlos an den Rand der Gesellschaft ausgegrenzt werden. „Wir müssen leider draußen bleiben“, so der Titel des Buches, beschreibt, wie trotz Jubelnachrichten über Wirtschaftswachstum und angeblich historisch niedriger Arbeitslosenquote rund elf Millionen Menschen in Deutschland arm sind.

Und zu den Armen gehören längst nicht nur Langzeitarbeitslose und Rentner, sondern auch Menschen, die von Erlös ihrer Arbeit nicht leben können. Zeitarbeiter, Geringverdiener und Minijobber. Großartig ändert daran auch der Mindestlohn nichts, er mildert nur das allerschlimmste ab.

Die Politik, die die rasant wachsende Kluft zwischen Arm und Reich eigentlich wieder verkleinern sollte, verschließt nicht nur die Augen vor den realen Gegebenheiten, sie tritt sogar noch nach unten, ganz entgegen dem Artikel 1 des Grundgesetzes, indem sie die Meinung befeuert, das die Armen faul, ungebildet und vor allem selber schuld sind.

In aufrüttelnden Reportagen und bestechend genauen Analysen untermauert mit Zahlen, erkundet Kathrin Hartmann unsere spaltende Konsumgesellschaft und ihre globalen Zusammenhänge: Hier die Wirtschaftselite, die sich in „Leistungsträger“ definiert und eine verrohtes Bürgertum, das sich in reichen Stadtvierteln abschottet und nur für den eigenen Vorteil kämpft. Dort die pauschal als Unterschicht für nutzlos erklärten Menschen, die nicht auf Teilhabe, sondern nur auf Brotsamen, auf Almosen hoffen dürfen. Sie dürfen sich bei den Tafeln anstellen oder auf Spenden der Superreichen hoffen, die sich als neue Wohltäter gerieren. Und über alles stehen Politiker, die sich zunehmend aus der Oberschicht rekrutieren und nicht die Armut bekämpfen, sondern den Reichen Vorteile sichern. Statt etwas gegen die strukturelle Armut zu unternehmen, loben sie die Arbeit der karitativen Organisationen, die die Armen mit Nahrungsmittelspenden versorgen.

Dabei muss sich heute keiner mehr sicher sein, dass er nicht in die Armutsklasse abrutscht. In zahlreichen Reportagen beschreibt Kathrin  Hartmann eindrucksvoll, wie gut situierte Bürgerinnen und Bürger unverschuldet in der Gesellschaft abrutschen. Alleinerziehende Mütter, die mit kleinen Kindern nicht arbeiten können und für die u. U. der Vater nicht zahlt, der Unternehmer, der mit seiner Firma in die Insolvenz geht und für die Schulden aufkommen muss, der Arbeiter und Angestellte, deren Firma pleite macht und die aufgrund ihres Alters keine neue Arbeit bekommen und schnell in Hartz IV abdriften, die Rentner, denen aufgrund stetig steigender Mieten oft nichts mehr zum Leben bleibt. Elf Millionen Arme, weit mehr als die knapp drei Millionen Arbeitslose.

Kathrin Hartmann berichtet, wie Arme ihre Würde verlieren wenn sie sich bei den Tafeln anstellen sich in Suppenküchen ihren Teller abholen oder im Sozialkaufhaus ihre Berechtigung vorzeigen.

Gerechtigkeit, so Hartmann, ist in unserer Gesellschaft zu einem Fremdwort geworden. Statt die Armut zu bekämpfen, duldet es die Politik, dass sich eine Parallelwelt bildet, in der sich Arme abseits von Konsum, Bioladen, Kino, Konzert oder Sport treffen, in der es keine Gesprächsthemen mehr gibt mit anderen Gesellschaftsschichten. Statt den Armen zu helfen, spricht man ihnen noch das Recht auf ein Handy ab, sperrt sie damit aus, aus der Kommunikation mit ihrer Umwelt. Aus den Augen, aus dem Leben, aus dem Sinn.

Die waren Sozialschmarotzer sind, da ist sich die Journalistin sicher, die Reichen. Sie mehren ihren Reichtum indem sie ihren Arbeitern nicht auskömmliche Löhne zahlen, indem sie ihre Steuern mit allerhand, auch illegalen, Steuertricks minimieren.

Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in dem 1/3 aller Lebensmittel weggeworfen werden. Tafelläden sammeln den weggeworfenen Überschuss und verteilen ihn an die Armen – und sorgen so dafür, dass die Wegwerfenden noch nicht mal ein schlechtes Gewissen haben.

Die Armut ist politisch gewollt, sie drückt das Lohnniveau und macht Deutschland auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig. Es gibt genug Alternativen, so Hartmann, die aber alle im Widerspruch zu unserem Streben nach Macht und Geld stehen. Sie forderte die Bürgerschaft auf, sich als Gegenpart zur Wirtschaft zu formieren und dafür zu kämpfen, dass man wieder von der Arbeit leben kann und dass es Bildung für Alle gibt – „Rechte“ statt „Allmosen“.

Der Lesung schloss sich eine gut einstündige Diskussion an.

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