Sonntagsgedanken: Wächteramt am Morgen

Wann haben Sie den letzten Sonnenaufgang beobachtet? Jetzt im Sommer muss man dazu früh aufstehen. Sonnenaufgänge sind nicht so spektakulär wie die farbintensiven Untergänge. Beim Sonnenaufgang kommt es darauf an, zu warten. Wer früh genug aufsteht, kann beobachten, wie die Sterne langsam verlöschen, einfach deshalb, weil es unmerklich heller wird.

Der Morgen graut, heiß es. In dieses Grau mischen sich je nach Wolkenlage, rötliche Lichtfelder, manchmal nur als schmale Streifen zwischen den Wolken, manchmal wie ein den ganzen Himmel sanft entflammendes Vorspiel zum Auftritt der Sonne. Das sanfte Farbenspiel, das sich in Gewässern und Wolken facettenreich spiegelt, wird von einem vielstimmigen Vogelkonzert begleitet. Spätestens jetzt weichen die Nachtträume, die einen beim Aufstehen noch umtreiben und es macht sich ein leichtes Gefühl der Erwartung breit. Ein neuer Tag kündigt sich an, frisch und unverbraucht. Ein beschwingend leichtes Gefühl zwischen den Zeiten! Nur kurz währt es, denn die Sonne klettert in wenigen Minuten über den Horizont und flutet schnell das Land mit Tageslicht. Im Gebetbuch Israels in den Psalmen heißt es „Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn!“ Im Judentum ist das Warten und sehnliche Erwarten immer schon die Grundstimmung des Glaubens gewesen. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ so wird alle Jahre das Passafest beendet mit der Hoffnung auf die anbrechenden messianischen Zeiten. Das Christentum hat sich über viele Jahrhunderte als Erfüllung der Verheißungen verstanden. Nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts und jetzt in den sich abzeichnenden Katastrophen des 21. Jahrhunderts, lernen wir von unseren jüdischen Geschwistern das Warten, das sehnliche Erwarten. Im Persönlichen erleben wir immer wieder solche Durchbrüche zu einem neuen Tag, wie die Lebensumstände sich wieder aufhellen, wie die Seele wieder freier wird, um die Strahlen der Liebe und des Lichtes in sich aufzunehmen. Weltweit leben wir im Dazwischen des Morgengrauens. Christen und Juden sind Hoffnungsmenschen: Der Tag wird kommen- ganz gleich, wie dunkel die Nächte sind. Nutzen Sie den Sommer für einen Sonnenaufgang! Und lassen Sie sich ein auf das Zeugnis eines heranbrechenden Tages.

Pfarrer Markus Herb, Rechberghausen

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