Sonntagsgedanken: Beten und Fordern wagen

Ja, das gibt es, dass wir eine Mordswut im Bauch haben. Man kann es regelrecht spüren in der Magengegend. Ich meine die Wut, die wir spüren, wenn wir ungerecht behandelt werden. Ungerechtigkeiten, die sind ganz schwer zu ertragen. Wir leiden an Leib und Seele daran, wenn sie uns widerfahren: Wenn wir im Unterschied zu anderen nicht erhalten, was uns zusteht. Wenn wir ganz offensichtlich benachteiligt werden. Wenn wir keine Anerkennung erhalten. Wenn unsere Person oder unsere Arbeit nicht geachtet wird. Wenn wir klein gehalten werden sollen oder verletzt und gedemütigt werden. Wenn Entlassungen wegen Gewinnmaximierung angekündigt und realisiert werden. Solche Ungerechtigkeiten nagen an uns.

In den katholischen Gottesdiensten hören wir an diesem Wochenende im Lukas-Evangelium (Lk 18,1-8) von einer Witwe, die betet: „Verschaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“. Damit betet die Witwe nicht um eine Veränderung ihrer eigenen Persönlichkeit oder ihrer Einstellung gegenüber dem Unrecht, sondern sie bittet ganz konkret um eine Änderung der sozialen Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt war. Diese musste geändert werden. Das Gottesbild Jesu, das Lukas uns hier überliefert, zeigt einen mit der Not des Menschen solidarischen Gott, der eingreift. Ein Gott, der vor allem die Situation um der Leidenden willen verändert und deswegen der Witwe recht verschafft. Dabei zeigt das Gleichnis eine für uns ungewohnte Haltung des Betens. Das Gebet um das Gottesreich ist die Bitte um „Recht“ – um Gottes Recht, keine demütige Hingabe, sondern „Verlangen“. Die Betenden sollen nicht aufgeben, nicht im Unrecht bleiben, sich nicht abschrecken lassen. Gebet und Schrei zu Gott gegen das erfahrene Unrecht beschreiben damit das Leben der Glaubenden, ihre Anstrengung, ihren Protest und ihr Vertrauen zu Gott; denn sie haben die Hoffnung, dass Gott Gerechtigkeit herstellen wird.

So sind wir gefordert, tief Luft zu holen und gegen das Unrecht mit anzuschreien. Und zwar mit langem Atem, denn der ungerechte Richter will oft lange nicht hören, wie Lukas erzählt. Dabei dürfen wir nicht in die Versuchung fallen, unsere Armen noch sprachloser zu machen, indem wir zu viel von Barmherzigkeit und zu wenig von Recht und Gerechtigkeit sprechen. Und auch nicht ständig vertrösten lassen. „Denn wer Tag und Nacht zu Gott ruft, der wird Recht bekommen“, sagt Jesus zu seinen Jüngerinnen, als er den Glauben der verwitweten Frau entdeckt.

In Lk 18, 1- 8 schließt die Jesu Rede mit der Ermahnung, immerfort und mit der ganzen Existenz zu beten und zu Gott zu rufen nach Gerechtigkeit. Und dafür einzutreten.

Wagen wir es. Immer wieder. Um der Gerechtigkeit willen. Und weil Beten für die eigene Gottesbeziehung öffnet und Beten Gott die Chance gibt, das anzustoßen, was wir nicht vermögen.

 

Norbert Köngeter, Stadtdiakon, Katholische Kirche Göppingen

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