Kitas in der Krise – weitere Flucht aus den Berufen droht – ver.di plädiert für konzertierte Maßnahmen vor Ort

ver.di hat heute die Ergebnisse des Kita-Personalchecks, an dem sich zwischen dem 8. September 2022 und dem 16. Oktober 2022 insgesamt 1.308 Beschäftigte aus baden-württembergischen Kindertagesstätten beteiligt haben, vorgestellt. Unter den 1.045 auswertbaren Fragebogen befanden sich 35,9 Prozent Leitungskräfte und es haben sich überwiegend öffentlich getragenen Einrichtungen (71 Prozent) beteiligt.

Die Befragung wurde durch die Hochschule Fulda unter Leitung von Prof. Dr. Nikolaus Meyer durchgeführt. Die Ergebnisse bestätigen, dass sich das System Kita akut in der Krise befindet. 7,1 Prozent der Befragten gaben an, das Berufsfeld verlassen zu wollen, weitere 27 Prozent überlegen, ihre Arbeitszeit zu verringern. Nur 9,3 Prozent der Beschäftigten können sich grundsätzlich eine Aufstockung ihrer Arbeitszeit vorstellen, wollen dies aber bei den herrschenden Bedingungen nicht machen. 44 Prozent beklagen eine insgesamt zu hohe Arbeitsbelastung.

Prof. Dr. Nikolaus Meyer: „Das sind alarmierende Zahlen: Rund ein Drittel der Befragten will die Stunden reduzieren oder sogar das System verlassen.“

Sabine Leber-Hoischen, Erzieherin und Vorsitzende der Landesfachgruppe Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di Baden-Württemberg, ergänzt: „Wenn ein Drittel der Beschäftigten erwägt, kürzer zu treten oder gar ganz zu gehen, droht mit einer Absenkung der Standards der Kollaps des Systems Kita. Wer jetzt die Arbeitsbedingungen noch verschlechtern will, spielt mit dem Feuer: noch weniger besetzte Stellen und damit noch weniger verfügbare Plätze wären die Folge.“

ver.di fordert deshalb vor allem auch für kleinere Einrichtungen, Tätigkeiten in Hauswirtschaft, Technik, Verwaltung zu ermitteln, um diese dann an Ergänzungskräfte abzugeben und so das pädagogische Personal zu entlasten. Außerdem sollten systematisch Teilzeitanteile und Möglichkeiten, diese Anteile in Richtung Vollzeit zu erhöhen, erfragt werden. Fluktuationsbestrebungen sollten dringen erhoben werden unter dem Fokus, wie diese mit den Rahmenbedingungen der Arbeit und Ausbildung zusammenhängen, damit gegengesteuert werden kann.

Derzeit sind in den Einrichtungen von 26,2 Prozent der Befragten eine halbe Stelle und bei 15 Prozent sogar mehr als 2,2 Stellen unbesetzt. Die scheinbar guten Personalschlüssel in Baden-Württemberg stehen demnach nur auf dem Papier. Immer noch fehlen verbindliche Verankerungen von Zeitanteilen für Krankheit, Fortbildung und die Anleitung von Auszubildenden in der Mindestpersonalverordnung des Landes.

Hanna Binder, stellvertretende ver.di Landesbezirksleiterin: „Nachdem wir das System Kita trotz ständiger Warnungen seit Jahren nahezu ungebremst in die Krise fahren, wundern uns die Rufe vieler Kommunen nach einer Notbremsung ehrlich gesagt nicht. Aber ohne Rücksicht auf Verluste in die Eisen zu steigen, schadet allen: Vor allem den Kindern und ihren Eltern und genauso auch den pädagogischen Fachkräften in den Kitas, deren Bildungsauftrag immer weiter in den Hintergrund rückt. Was wir jetzt brauchen sind konzertierte Maßnahmen in betroffenen Kommunen, mit allen Beteiligten am Tisch. Wo trotz aller Anstrengungen Angebote reduziert werden, um die Mindeststandards zu erhalten, sollte dies wenigstens Schritt für Schritt gemacht werden. Damit verlässliche Planung für die Familien möglich ist. Wenn wir eines aus der Corona-Notbetreuung gelernt haben, dann, dass ein erzwungener Kitawechsel für Kinder und Eltern die allerschlechteste Lösung ist. Und auch nicht angenommen wird.“

ver.di Baden-Württemberg weist darauf hin, dass immer noch viel zu wenig unternommen wird, um den Fachkräftemangel zu beheben. So werden beim Direkteinstiegsprogramm qualifizierte Bewerber:innen von den Trägern nicht berücksichtigt, obwohl die Mittel dafür bei der Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg zum Abruf bereit stehen. ver.di Baden-Württemberg fordert deshalb:

Neue Fachkräfte gewinnen

– Die berufliche Ausbildung muss weiter forciert werden und mehr bezahlte Ausbildungsplätze von den Trägern angeboten werden (sog. Praxisintegrierte Ausbildungsgänge, auch PiA’s genannt; diese sind inzwischen auch tarifiert und seit dem letzten SuE-Abschluss in Stufe 2 nach der Ausbildung eingruppiert – hier hat ver.di bereits geliefert zugunsten der Attraktivität), – Das Direkteinstiegsprogramm muss von Arbeitgeberseite mehr genutzt werden und damit aktiv neue Bewerber:innen gewonnen werden, – Nicht-Fachkräfte dürfen nur mit verbindlicher Qualifizierungszusage zusätzlich eingestellt werden mit dem Ziel, Fachkraft zu werden, – Die Anleiter:innen-Zulage nach TVöD SuE muss flächendeckend von den Trägern auch bezahlt werden, um Ausbildung attraktiver zu machen und die Kolleg:innen wert zu schätzen, die diese wichtige Aufgabe im Alltag übernehmen, – Stellenanteile für die Anleitung von Auszubildenden müssen fest in der Mindestpersonalverordnung des Landes verankert werden und in die Dienstpläne vor Ort aufgenommen werden, – Teilzeitanteile anheben in Richtung 100 Prozent-Stellen: das vorhandene Potenzial bei den Beschäftigten des jeweiligen Trägers abfragen und die Teilzeitanteile erhöhen bei guten Rahmenbedingungen.

Fachkräfte halten

Die Bedingungen in den Einrichtungen müssen sich unbedingt für die Kolleg:innen verbessern, um weiteres Abwandern zu verhindern – und auch für die Familien, um verlässliche und qualitativ hochwertige Angebote vorzuhalten. Das heißt: – wir müssen an den Qualitätsstandards festhalten, – es muss weiterhin das Fachkraftgebot gelten, – kleinere Gruppen und fachlich gebotene Fachkraft-Kind-Schlüssel müssen realisiert werden (auch Baden-Württemberg hat hier noch Verbesserungspotential), – der Kinderschutz muss wirksam realisiert werden, das geht nur mit ausreichend und qualifiziertem Fachpersonal, – Entlastung organisieren: durch die flächendeckende Beschäftigung von Verwaltungs-, Hauswirtschafts- und Technik-Kräften und deren Re-Finanzierung durch das Land.

Und, wenn es bei allen Bemühungen aller vor Ort Beteiligter nicht anders geht, müssen unter Umständen die quantitativen Rahmenbedingungen verändert und den vorhandenen personellen Ressourcen vor Ort angepasst werden, also evtl. weniger tägliche Angebote und evtl. auch kürzere Öffnungszeiten, wenn vorübergehend nicht ausreichend Personal da ist – dem Fachkräftemangel gerade mit dem Festhalten an der Qualität begegnen und lieber Verlässlichkeit organisieren als um jeden Preis einen Ganztagsbetrieb mit Nicht-Fachkräften aufrecht zu erhalten. Jede Zeit der Öffnungszeit ist Bildungszeit mit den Kindern, das lässt sich aus fachlicher Sicht nicht auseinanderdividieren.

Die ver.di SOS Kita Kampagne – Mustervereinbarung bei personellen Engpässen, liefert hier ein Instrument. – Fort- und Weiterbildungen anerkennen (Facherzieher:innen in der S 8b bezahlen). Zusammenfassung: Dem Fachkräftebedarf muss mit dem unbedingten Festhalten an den qualitativen Standards entsprochen und der Kita-Krise vorübergehend ausschließlich mit quantitativen Maßnahmen begegnet werden (ver.di SOS Kita Kampagne), um das vorhandene Personal zu halten und für neues attraktiv zu sein. Und auch gesamtgesellschaftlich muss Verantwortung übernommen werden, so müssen auch die Betriebe für ihre Beschäftigten mehr vereinbarkeitsbezogene Möglichkeiten eröffnen und die Politik muss mit weitreichende familien- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen diese flankieren. Hierüber wird aus ver.di Sicht aktuell öffentlich noch zu wenig beraten. ver.di setzt sich in diesem Zusammenhang bundesweit für ein Moratorium in der frühkindlichen Bildungspolitik ein und fordert Bund, Länder und Kommunen auf, in dessen Verlauf einen Stufenplan vorzulegen und zu realisieren.

PM ver.di Landesbezirk Baden-Württemberg

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